Das Portal schloss sich hinter Mathilda, Johnny und Viktor. Sie befanden sich in einem kleinen Alkoven, dessen Wände aus Beton bestanden, sie waren allerdings mit Reliefs plastisch gestaltet und teilweise bemalt. Es handelte sich um eine wilde Mischung aus Szenen, die wohl das Leben in Italien zur Zeit der Renaissance darstellen sollten. Viktor erkannte den Duomo in Florenz, den Campanile di San Marco und einige weitere Bauwerke, auch bekannte Kunstwerke, von denen ihm allerdings bei weitem nicht alle bekannt waren. Alles in allem fand er das, was wohl opulent sein sollte, schrecklich überladen. Zwei bewaffnete Männer befanden sich in dem Raum, ihre bis auf das Symbol der Foundation und die Zeichen ihres Ranges reinweißen Masken wirkten im Zusammenspiel mit den Kampfanzügen grotesk und dennoch recht bedrohlich. So ist es wohl auch gewollt, habt Spaß, aber nicht zuviel, sonst gibt es Probleme, dachte Viktor.
"Bitte weitergehen", sagte der eine und machte eine weisende Bewegung mit seinem Gewehr.
"Da kommen gleich noch zwei nach", bemerkte Johnny.
"Weitergehen."
Türsteher, immer derselbe Typus, wo man auch hinkommt. Viktor verdrehte hinter seiner Maske die Augen. Hinter dem einzigen Ausgang war der Ball bereits in vollem Gange, eine schrillbunte Menge von verschiedenst kostümierten Menschen wogte hin und her und mit ihnen die Flüssigkeiten in den Gläsern, die beinahe jeder in der Hand hielt. Was alle Anwesenden verband war der Umstand, dass jeder eine wie auch immer geartete venezianische Karnevalsmaske trug. Der Rest schien willkürlich gewählt, das Spektrum reichte von überbordend verzierten mittelalterlichen Gewändern (der deutlich größte Anteil), über Anzüge und Bürokostüme bis hin zu Casual-Wear. Hier und da trugen Leute neutrale Laborkittel, ein Witzbold trug einen D-Klasse-Overall. Es war warm, beinahe schwül. Eine bis an den Rand der Aufdringlichkeit aromatische Melange aus Parfums, dem Duft von irgendwelchen süßen und deftigen Leckereien sowie dem Geruch von Bohnerwachs, der von dem dunklen Parkettboden aufstieg, hing in der Luft. Die Decke, mindestens sechs Meter hoch, war mit Bahnen aus rotem und goldenem Stoff abgehängt. Über den durch die Masken merkwürdig gedämpften Geräuschen der Gespräche schwebten die Klänge von Barockmusik; Cembalo, Flöte, Laute. Viktor tippte Mathilda auf die Schulter und zeigte dann auf seinen Oberarm. Das Mädchen klopfte demonstrativ dreimal auf den Anker an ihrem Arm und sagte ein wenig genervt:
"Ja, ja, fixiert", nach einem Moment fügte sie hinzu: "Warum kommt Bell eigentlich nicht mit?"
"Du hast doch gehört, wie auffällig abfällig sie sich über den Ball geäußert hat? Und die viele Arbeit die sie hat? Weil wir nur Probleme machen, statt sie zu lösen?", fragte Johnny.
"Ja, aber sie hat das nicht ernst gemeint. Sie hat gelacht."
"Was schließt du also daraus?"
Mathilda dachte einen Moment nach, legte die Maske ein wenig schief. Eine diagonale Linie verlief von der rechten Schläfe über die Nasenwurzel bis zum linken Kiefer und teilte sie in zwei Felder. Das eine zeigte die messingfarbene Sonne, mitsamt einem spöttisch lächelndem Mund und geschwungen Strahlen, gestaltet wie die Klingen indonesischer Kris-Dolche. Das andere stellte das Antlitz eines eher unbeteiligt-abweisenden Mondes in kühlem Blau dar. Auf dem Kleid des Kindes setzten sich Zweifarbigkeit und Motto fort. Das Mädchen schnippte mit den Fingern.
"Sie ist schon längst hier, oder?"
"Pflügt hier durch wie der fröhliche Pan durch seinen Wald, jede Wette", sagte Viktor trocken.
In dem Alkoven, dessen Zugang von dieser Seite einen Rundbogen mit verspielt tanzenden und tändelnden und in durchaus fragwürdigen Konstellationen befindlichen Nymphen und Satyrn darstellte, öffnete sich ein weiteres Portal. Alice und Stephan kamen Hand in Hand heraus. Partnerlook, wer hätte das ahnen können, dachte Viktor. Das Paar war größtenteils schwarz gekleidet, Alice trug ein weit ausgeschnittenes Kleid mit ausladenden Röcken, die bis auf den Boden reichten und nachtschwarze Handschuhe bis zu den Ellenbogen. Stephan trug ein schimmerndes Wams und dunkle Kniebundhosen, unter denen passende Strümpfe (oder eine Strumpfhose, dachte Viktor und verkniff sich ein Lachen) verschwanden, sowie Spangenschuhe. Über beide Kostüme zogen sich in jeweils einer langen, unregelmäßigen Spirale, die sich häufiger selbst schnitt, weiße Bänder aus Spitze. Bei genauerem Hinsehen erkannte Viktor, dass es sich um eine fortlaufende Reihung nordischer Runen handelte. Dazu trugen beide identische Halbmasken, anthrazitfarben und matt lackiert, inklusive der für viele venezianische Masken typischen gebogenen Vogelschnäbel.
"Na, was sagt man dazu, Odins liebste Vögel. Schön, dass ihr es einrichten konntet!"
Alice griff mit Zeigefingern und Daumen in den Stoff ihres Kleides, zog ihn leicht nach oben und knickste elegant, gleichzeitig machte Stephan eine perfekte, angedeutete Verbeugung.
"Eingeübt und geprobt. Ihr seid wirklich und wahrhaftig zwei komische Vögel", prustete Viktor.
"Schweige er still, der traurige Tropf von einem Harlekin!", deklamierte Stephan betont blasiert.
Einen Moment später lachten sie alle.
"Hofnarr nach Shakespeare, wenn ich bitten… Was ist denn, Mati?"
"Kann ich jetzt, bitte? Vielleicht finde ich ich Bell irgendwo!"
"Na schön, die Regeln, Kleines?", fragte Alice und Mathilda schnaubte unwillig.
"Keine Namen gegenüber Fremden, kein Gequatsche über die Arbeit, nicht die Maske abnehmen, der Heimkehrer gehört zum Kostüm."
"Und was noch?"
"Wir treffen uns hier in vier Stunden, dann sehen wir weiter!"
"Schwirr ab."
Mathilda drehte sich um und begann sich einen Weg zwischen den Gruppen der Ballgäste zu bahnen. Die vier Erwachsenen sahen beinahe gleichzeitig auf die winzigen Bildschirme auf ihren Armbändern. Ein gelbes "M" bewegte sich regelmäßig aufblinkend in Richtung Südwest.
"Funktioniert einwandfrei. Gehen wir ihr ein Stück hinterher, Alice?" Stephan bot ihr den Arm. Alice kontrollierte ihre Hochsteckfrisur, dann hakte sie sich bei ihm ein.
"Wir sehen uns dann später, Jungs", flötete sie und winkte kokett.
Johnny und Viktor sahen sich an. Viktor fiel nun zum wiederholten Mal auf, dass Johnny unruhig wirkte, schon bevor sie aufgebrochen waren, hatte er immer wieder auf die Uhr gesehen.
"Stimmt was nicht? Warum bist du so nervös?"
"Nein, nein. Alles in Ordnung", behauptete Johnny und kontrollierte schon wieder die Uhrzeit.
"Wir suchen uns jetzt was zu trinken, Kumpel", kommandierte Viktor.
Johnny setzte sich augenblicklich in Bewegung und steuerte sofort eine bestimmte Richtung an. Viktor blieb nichts anderes übrig, als zu folgen. Johnny trug, abgesehen von seinem unvermeidlichen Fedora, womöglich das extravaganteste Kostüm der ganzen Gruppe, auf jeden Fall aber die kunstvollste Maske. Sie bestand aus handbemaltem Email, in der Form schlicht oval, zeigte sie einen romantisch verklärten Garten mit blühenden Rosensträuchern. Eine Ranke schlängelte sich von der Stirn über die rechte Wange nach unten und setzte sich auf Johnnys Hemd fort, auf der Höhe der Taille führte sie auf den Rücken. Bei den Blättern handelte es sich um Quadrate, sie stellten die Symbole verschiedener chemischer Elemente dar, manche waren weiß, manche in sattem Rot hervorgehoben, Ordnungszahl, Symbol, Atommasse. Auf Johnnys Rücken erkannte Viktor, quasi markiert, zweimal Stickstoff und einmal Yttrium. Merkwürdige Mischung. In Viktor keimte ein Verdacht.
"Mach mal deinen Kanal auf, Johnny."
Was ist los?
Wenn du dich jetzt umdrehst, finde ich dann Jod, Sauerstoff und Wasserstoff auf deinem Hemd?
Johnny hüllte sich in mentales Schweigen.
I-O-H-N-N-Y? Meinst du nicht, willkürliche Elemente hätten als Erkennungszeichen gereicht? Ich sehe auf jeden Fall keine anderen Periodensysteme herumlaufen.
Johnny blieb stehen und drehte sich um. Hab ich mal wieder richtig geraten, dachte Viktor.
"Erkennungszeichen? Was meinst du?", gab sich sein Freund harmlos.
"Ich nehme mal schwer an, dass du ein Rendezvous mit Americium-Yttrium geplant hast? Wie hast du es geschafft, dass sie eine Einladung bekommen hat?"
Erklär ich dir bei Gelegenheit.
Viktor amüsierte sich ein wenig über Johnnys Verlegenheit, zumindest war damit die Frage der Nervosität geklärt. Sie hatten eine Seite des Saales erreicht, wo sich auf einem langen Buffet Speisen aller Art türmten, mehrere Köche hantierten dahinter unter riesigen Dunstabzügen an passend dimensionierten Töpfen. Es gab sogar zwei Spanferkel, die sich langsam über einem Kohlebecken drehten. Johnny hatte dafür keine Augen, er steuerte auf einen weiteren Alkoven zu, aus dem ab und zu weitere Gäste traten. Dabei reckte und streckte er sich angestrengt. Viktor konnte es sich nicht verkneifen, ihm ein Bild zu schicken, auf dem Johnny, angetan mit einem Tropenhelm, den Federbusch der Maske einer Dame teilte wie Savannengras. Im Gegenzug ließ Johnny in Viktors Verstand einen Wasserbüffel vorübergallopieren, der Viktor äußerst ähnlich sah.
Jemand legte Johnny eine Hand auf die Schulter. Eine zierliche Frau, angetan mit einer unregelmäßigen Maske, die wie eine geöffnete, rote Rosenblüte gestaltet war. Der dornige Stiel zog sich, ähnlich wie die Kletterranke bei Johnny, über ihr cremefarbenes Kleid, mit mehreren spiraligen Auswüchsen. Die Elemente Americium und Yttrium waren Tropfen von scharlachrotem Blut, die an den Spitzen der Dornen hingen.
"Hallo", sagte sie schüchtern.
"Hi", antwortete Johnny mit seltsam belegter Stimme.
Oh Mann, muss die Liebe schön sein, dachte Viktor, los, Küsschen bis die Masken klirren. Johnny gab sich einen Ruck und umarmte Amy.
"Schönen guten Abend!", sagte Viktor und die junge Frau wurde erst jetzt auf ihn aufmerksam. Bereits jetzt fühlte er sich wie das redensartliche fünfte Rad am Wagen. Auch Johnny wandte sich ihm jetzt zu und er spürte einen Blick auf sich ruhen, der schwer zu deuten war.
"Viktor, bist du das? Interessantes Kostüm. Ein bisschen düster vielleicht, die schwarzen Augen und Lippen, die grünen Karos…"
"Mir gefiel es ganz gut. Deines ist sehr hübsch, übrigens. Aber ihr habt sicher einiges zu besprechen, ich werd mir mal was zu trinken organisieren! Bis später, Kumpel. Wir sehen uns, Amy!"
Viktor drückte sie kurz und klopfte Johnny auf die Schulter.
Viel Spaß, ihr zwei hübschen Blümchen, denk dran, Februar ist nicht Bestäubungszeit.
Sieh zu, dass du Land gewinnst, Schandmaul!, sendete Johnny fröhlich zurück.
Und da verließen sie ihn, dachte Viktor. Die Bar würde er auch alleine finden, das war sicherlich nicht schwierig, wie bei jeder Art von Party sammelten sich dort die Menschen, sei es die Küche eines Einfamilienhauses oder der Ausschank eines unübersehbaren Ballsaales wie hier. Außerdem war natürlich anzunehmen, dass sie sich auf der gegenüberliegenden Seite befand. Auf seinem Weg brach die geisterhafte Gestalt eines Mannes durch die Körper der Menschen vor ihm hindurch, eine hässliche Wunde klaffte in der Schulter. Er ignorierte die Erscheinung. Es gab tatsächlich so etwas wie eine klassische Bar, in dunklem Holz gehalten, die sich in eine Ecke des Saales schmiegte; die Flaschen und Karaffen im Hintergrund anzublicken war wie durch ein staubiges Kaleidoskop zu sehen: Farb- und formlich verschieden, dem Zweck nach gleich, wie die Leute, die vorbeiflanierten. Zu seinem Bedauern war sie so überlaufen, dass sich mitunter zwischen die festverschraubten Barhocker zwei nach Spirituosen und Gesprächen hungrige Menschen pressten. Doch man war sich offenbar bewusst gewesen, dass das nicht ausreichen würde, denn das schnapsgefüllte Ungetüm wurde beiderseits gesäumt von Konsolen, beladen mit gläsernen Ballonen. Um diese mit bunten Flüssigkeiten gefüllten Planeten reihten sich Monde in Form von Tassen, Krügen und Fingerhüten aus demselben Material. Viktor schätzte die Lage ab und entschied sich für die orangefarbene Variante. Während er in der Schlange wartete, kam er nicht umhin, seinen Vordermann zu betrachten. Anderthalb Köpfe kleiner war er, schütteres graues Haar am Hinterkopf, gekleidet in einen Laborkittel. Seine Maske war ein Fisch, dessen Schwanz zur Decke zeigte, seitliche Flossen bedeckten die Ohrmuscheln des Mannes. Viktor griff sich ein Punschglas. Zieht sich durch wie ein roter Faden, diese blöden Dinger schränken das Sichtfeld ziemlich ein, dachte er, als eine Pranke nach seinem Vordermann griff. Sie packte eine handvoll Stoff zwischen den Schulterblättern, drehte sich um etwa 45 Grad, wobei sich in der Faust ein Knäuel bildete und das Mäntelchen sich um die spärlichen Muskeln spannte. Das Kerlchen wurde am ausgestreckten Arm dreißig Zentimeter hochgehoben, aus der Schlange entfernt und daneben wieder abgestellt. Es brachte so etwas wie ein erstauntes "Hu" hervor. Pech gehabt, er wäre fast an der Reihe gewesen. Offensichtlich erzürnt besah sich der Mann die Person, die es gewagt hatte ihn anzugehen. Nachdem der Blick ziemlich weit nach oben gewandert war, entschied Fischmaske vernünftigerweise, dass es diesmal angezeigt war, auf dem Trockenen zu bleiben. Viktor machte einen Schritt nach vorne. Er versuchte es zumindest. Die andere Pranke hielt ihn zurück. Eigentlich legte sie sich nur kurz auf seine Brust, es war kein Schubsen und kein Stoß, aber es fühlte sich durchaus so an.
"Ladies first", grollte der Kerl, der so unkonventionell Platz geschaffen hatte.
Der Mann war groß, sehr groß und noch einige Handbreit mehr. Es wirkte, als ob der Gigant problemlos eine der Stoffbahnen an der Decke hätte herunterreißen können. Sein Kostüm bestand aus etwas, dass wie graues Leder wirkte. Muskelpakete zeichneten sich unheilvoll darunter ab. Das Gesicht des Riesen wurde vom Antlitz eines wütenden Widders verdeckt, aus den Nüstern quoll stilisierter Rauch, gedrehte Hörner schienen direkt aus dem Schädel zu ragen. Er sah aus wie etwas, mit dem man ein Burgtor einrammen konnte. Nein, wie jemand, der allein problemlos in die Festung eindrang, während die Besatzung schlotternd im Burgfried hockte. Zu seiner eigenen Verblüffung hörte sich Viktor sagen:
"Entschuldigung, selbstverständlich, Madame. Ich habe Sie fälschlicherweise für einen Kerl gehalten, muss an meinen schlechten Augen liegen."
Ein Zucken durchlief die gewaltige Gestalt. Wenn Goliath mir eine feuert, bleiben die Splitter der Maske an der Innenseite meines Hinterkopfes stecken. Oder vielleicht gehen sie auch durch, fuhr es Viktor durch den Kopf. Aber es kam nicht dazu.
"Nicht. Schlechte Augen und eine viel zu große Klappe. Ich frage mich, wie du den Pausenhof überlebt hast", sagte jemand fröhlich, der von dem Mann völlig verdeckt wurde.
Der menschliche Rammbock trat ein wenig zur Seite. Vor dem Punschglas stand eine Frau. Sie drehte Viktor das Gesicht zu. Einen Augenblick lang lag etwas wie ein Schleier über Viktors Augen, der die Gestalt weichzeichnete und den Eindruck erzeugte, der Raum bewege sich ein wenig. Er blinzelte und sah wieder klar. Die Maske, dachte er. Sie war wie etwas aus einer anderen Welt, vantaschwarz und schien aus kleinen Würfeln zu bestehen, die nur sichtbar waren, weil manche Kanten das Licht prismatisch und irisierend-regenbogenfarben reflektierten. Waren es Würfel? Oktaeder? Komplizierteres? Viktor vermochte es nicht zu sagen, die Gebilde schienen sich zu bewegen, in sich zu verschmelzen, auf eine Art und Weise, die seinen Verstand ins Schleudern brachte. Wie ein Fraktal, irgendwie, fiel ihm ein. Die Frau, die diesen bizarren Kopfputz trug, nahm die Schöpfkelle aus dem Bowlenglas, schob das Ding vor ihrem Gesicht einige Zentimeter hoch und probierte ungehemmt. Kurzes Schmatzen und ein semi-zufriedenes Brummen folgten. Sie legte die Kelle beiseite.
"Ich darf doch mal, Viktor, Balder, Vierauge, Wurmauge? Kusch!" machte sie dann und griff an ihm vorbei, während er so perplex neben sich stand, dass er einfach Platz machte ohne richtig nachzudenken.
Sie nahm sich sechs Punschgläser, welche sie vor sich auf der Konsole drapierte. Dann zog sie von irgendwoher einen durchsichtigen Gummischlauch hervor und steckte ein Ende in die orangefarbene Flüssigkeit. Am anderen Ende saugte sie kurz und Viktor sah wie hypnotisiert das Getränk aufsteigen. Ein Daumendruck verschloss den Schlauch und einen Moment später begann die Frau die Gläser zu füllen, völlig ungeniert wie ein erfahrener Treibstoffdieb, der sich spätnachts aus fremden Tanks bediente. Als sie fertig war, verschloss sie den Schlauch abermals und sagte zu ihm:
"So, her mit deinem Krüglein, solang noch was da ist."
Viktor folgte wie ein wohlerzogenes Kind und erhielt sein Getränk. Der Pegel in dem Glasballon war merklich gesunken. Der Schlauch wurde ausgeschüttelt und weggepackt. Die Frau prostete ihm zu und stürzte eines ihrer Gläser auf Ex hinunter, der Inhalt des zweiten folgte in drei großen Schlucken. Danach rückte sie die Maske zurecht, die Viktor noch immer im Bann hielt, nur irgendwo in seinem Hinterkopf schwammen Fragen wie "Warum stört das hier niemand?" und "Woher weiß sie, wer ich bin?" herum.
"Kleiner Tipp noch. Halt immer gut die Augen offen, aber das ist ja dein Ding, oder? Aber pass auf, wo du hintrittst. Und ab und zu einfach mal das Maul halten, hat sich auch bewährt."
Sie gab dem Riesen zwei der gut gefüllten Gläser, nahm selbst eines in jede Hand und dann verschwanden beide in der Menge. Ein verwirrter Viktor blieb zurück. Das würde er später melden müssen, keine Frage. Eigentlich hätte er sich alarmiert fühlen müssen, aber er war es nicht. Er nahm einen Schluck und hätte beinahe zu husten angefangen. Himmel, das Zeug war stark!
Etwas weiter entfernt, wahrscheinlich im Zentrum des Saales erklang Applaus, als gerade ein Stück endete. Rufe nach Wiederholung waren zu hören. Neue Musik hob an, ziemlich getragen und hymnisch und wurde mit neuerlichem Beifall belohnt. Viktor beschloss, den Vorfall an der Bar vorerst zu vergessen und sich anzusehen, was die Anwesenden so begeisterte. Mittlerweile hatte der riesige Ballsaal die Grenzen seiner Kapazität erreicht und es war schwieriger geworden, sich fortzubewegen. Nach einiger Zeit und etwas Gerempel stand er am Rande einer durch schwarze Intarsien vom übrigen Boden abgegrenzten Tanzfläche. Sie war frei, bis auf ein einzelnes Paar Tänzer. Eigentlich hätte er sich das denken können, diese Angeber. Er lächelte unter seiner Maske. Alice und Stephan hatten die Menge mühelos in ihren Bann gezogen. Und nach kurzem Zusehen verstand er auch, warum. Der Tanz schien nicht der Musik zu folgen, sondern andersherum, wenn er nicht ganz anderen Gesetzen folgte. Die Bewegungen der beiden harmonisch zu nennen, wäre in etwa so gewesen, als hätte man die Unendlichkeit als etwas recht Umfangreiches bezeichnet- bei weitem nicht genug. Die anomale Verbindung von Alice und Stephan wurde bei jeder Drehung, jedem Schritt, jeder Armbewegung so schmerzhaft deutlich, dass sie eigentlich jedem auffallen musste, auch denjenigen, die nichts davon wussten. Man kannte den Ausspruch, zwei Menschen wären füreinander wie geschaffen und selten war er treffender. Sie waren füreinander neu erschaffen. Eine Einheit, wenn man so wollte, ein vollkommenes Ying-Yang für spirituelle Zeitgenossen. Die Zuschauer spürten es und nahmen es mit Begeisterung auf, wahrscheinlich unfähig, die zur Schau gestellte Perfektion völlig zu begreifen. Die Meisten wiegten sich unwillkürlich zur Musik, Paare erkannte man zuverlässig daran, dass sie sich an den Händen hielten. Ein letztes Mal drehte sich Alice mit wirbelnden Röcken von Stephan weg ohne seine Hand loszulassen und im letzten Takt deuteten sie eine Verbeugung voreinander an. Die Musik verstummte, der Applaus brandete auf. Viktor klatschte mit, obwohl er während der Darbietung zunehmend melancholisch geworden war. Etwas fehlte ihm, er schob es innerlich beiseite. Um die gefeierten Tänzer hatte sich eine kleine Traube von Leuten gesammelt, die der Meinung waren, sie selbst seien wichtig genug, um zu gratulieren. Leicht genervt wartete Viktor und trank dabei nach und nach sein Glas leer.
"Was gibt es? Spiel auf vor König und vor Königin!", scherzte Alice schließlich.
Viktor hob die Arme und ließ kurz die Totenkopfschellen an den Manschettenärmeln klingeln.
"Ich geh noch auf einen Absacker an die Bar und dann mach ich mich vom Acker. Kümmert ihr euch um Mati?"
"Klar, aber warum gehst du schon? Ist doch nett hier? Denk dran, so schnell kriegen wir sowas nicht mehr zu sehen", meinte Stephan.
"Schon. Aber ich fühle mich reizüberflutet, oder wie man dazu sagt. Ich gehe Mati noch Bescheid sagen. Ach ja, falls ihr Johnny sucht, checkt ihr am besten zuerst das Séparée."
Melancholisch und zunehmend düsterer Stimmung oder nicht, er musste grinsen, als er sich entfernte und sich die fragenden Gesichter unter den Vogelmasken vorstellte. Er folgte Mathildas Signal eine Weile. Mit der beinahe unheimlichen Fähigkeit aller Kinder, sich auf Erwachsenenveranstaltungen zu finden, hatten sich auch hier die wenigen Halbwüchsigen an einem relativ freien Stück Wand gesammelt. Ein Bollwerk des jugendlichen Konsens gegen den staubtrockenen, lebenslustwürgenden Altenkram. Mathilda unterhielt sich mit einem Mädchen, dass in etwa gleichaltrig sein mochte, wer konnte das schon sagen, unter den Masken. Beide Mädchen hielten einen monströsen Busch aus blauer Zuckerwatte in der Hand, zupften dann und wann daran.
"Darf ich kurz mal stören, die Damen?"
"Es ist noch nicht soweit", stellte Mathilda fest.
"Für mich schon, ich werde gleich heimgehen, du hältst dich bitte an die anderen, okay?"
"Geh nur, Papa, es ist ja echt schon spät."
Ach, solche Spielchen wollte sie spielen? Das konnte er auch, wenn es sein musste.
"Prima, dann morgen einfach zwei Kapitel aus dem Ponybuch. Jetzt kann ich dir wegen den Masken nicht mal dein Gute-Nacht-Küsschen geben. Tut mir leid!"
Sie kam auf ihn zu und umarmte ihn. Viktor war verblüfft.
"Versprochen, ich lese dir zwei Kapitel vor, bist sicher schon sehr gespannt. Geh nur", sagte Mathilda viel lauter, als notwendig gewesen wäre.
Vorgeführt von einer frühreifen Zwölfjährigen. Viktors Stimmung hellte sich deutlich auf und er empfand Stolz, anders war das Gefühl nicht zu beschreiben. Er hob kurz grüßend die Hand zu dem Mädchen mit der weißen Perücke und flüsterte Mathilda zu:
"Wir sprechen uns noch, Töchterchen!"
Er orientierte sich im Saal und steuerte auf die Bar zu. Sein leeres Glas verschwand klirrend in einer Art gepolstertem Müllschacht, der in die Wand eingelassen war. Er überblickte die im rechten Winkel verlaufenden Reihen von Barhockern. Er hatte sich vorgenommen, einfach gleich zu verschwinden, sollte kein Platz frei sein. Doch es gab tatsächlich eine Leerstelle, wo gerade im Moment jemand in der Larve eines Pfaues, der als Küken in den Glitzerzaubertrank gefallen ein musste, aufstand. Seufzend wischte er den Hocker sauber und bestellte sich einen Gin-Tonic. Er nippte ein paarmal und begann den Alkohol zu spüren, nur machte er ihn nicht gelöster, sondern verdüsterte seine Stimmung eher noch. Es war keine gute Idee, weiterzutrinken, er schob das Glas von sich. Zeit, zu gehen.
"Interessantes Tattoo. Ägyptologe?", fragte eine weibliche Stimme unhöflich nahe an seinem Ohr.
Viktor blickte nach links und direkt in das Gesicht eines mittelalterlichen Straßenräubers. Unter einem braunen Dreispitz mit schreiend roter Hahnenfeder sahen ihn zwei haselnussbraune Augen interessiert an. Auf der weißen Maske, die um den Mund herum von einem roten Seidentuch verdeckt war, wurden diese von jeweils einem Kreis umrandet. Das Muster bestand aus sich abwechselnden, zinnoberfarbenen Messern und Patronen. Die Frage der Frau bezog sich auf das Horusauge, das auf Viktors rechtes Handgelenk tätowiert war. Der senkrechte Strich unter dem stilisierten Augapfel war zur Tiwaz-Rune ergänzt, 64/64 Heqat, ein Ganzes.
"Keine Arbeitsgespräche. Ich bin ein kleines Licht in der Verwaltung, außerdem."
"Ja, natürlich. Alleine hier? Oder in Begleitung?"
Lieber Gott, dachte er, was soll das denn jetzt? Wollte die maskierte Fremde etwa mit ihm flirten? Er hätte beinahe laut aufgelacht, an diesem Abend passierten höchst unwahrscheinliche Dinge. Er sah zu, wie sie nach seinem Drink langte und unter dem Halbschleier einen Schluck nahm.
"In Begleitung, ganz richtig, den Drink können Sie gern behalten", machte er möglichst abweisend.
"Schlechte Laune, was? Versetzt worden? Wo ist denn deine Freundin?"
"Ich weiß es nicht und Sie geht es nichts an."
"Na dann, tanzen? Wie wärs? Vorhin, da haben zwei…"
"Das wiederum weiß ich. Und Sie würden nicht tanzen wollen, wenn sie wüssten, was für eine Abscheulichkeit sich unter der Maske verbirgt."
Er versuchte so unhöflich wie möglich zu sein, aber das schien die Frau gar nicht zu stören. Er beschloss, einfach zu verschwinden. Er erhob sich, sie hielt ihn am Arm fest.
"Einer von der treuen Sorte? Sehr selten heutzutage, fast schon… anomal, wie wir in unserem Gewerbe sagen, oder? Schönen Abend noch, aber nicht vergessen: Man sieht sich immer zweimal."
Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg zum Ausgang. Manchmal überlegte er ernsthaft, auf welcher Seite der verrückten Foundation-Käfigtüren sich die merkwürdigeren Wesenheiten befanden.
Während er sich abwechselnd zwischen Gruppen hindurchschlängelte oder Leute einfach beiseite schob, sah er sich um, aber er konnte niemand von den anderen im Getümmel ausmachen. Als er den Alkoven betrat, vertrat ihm einer der Wachleute den Weg:
"Wenn Sie gehen wollen, überprüfen Sie bitte, ob Sie alle ihre persönlichen Gegenstände bei sich haben. Sobald Sie durch das Portal treten, können Sie nicht wieder…"
"Hab alles und weiß ich schon. Kann ich jetzt durch?"
Der Mann trat beiseite. Viktor sagte, die Stimme des Mannes imitierend:
"Ich muss Sie hiermit darauf hinweisen, dass Sie deutlich bequemer stehen, wenn Sie den Stock aus dem Hintern nehmen."
Dann trat er durch das Portal. Und begann zu fallen. Sein ausgestrecktes rechtes Bein ging ins Leere, er stürzte mit rudernden Armen fast waagrecht nach unten. Eine krude Ansammlung aus Decken, Matratzen und Pappkartons schien ihrerseits ihm entgegen zu stürzen. Viktor hatte gerade noch Zeit, die Arme vor den Kopf zu bringen, bevor er aufschlug. Schmerz erwartend hüllte ihn ein widerwärtiger Gestank aus dem polsternden Unrathaufen ein, sodass er schnell wieder auf die Beine kam, offenbar unverletzt. Das ist keinesfalls Sjhlfels und Kansas ist es auch nicht mehr, dachte er. Fehlfunktion im Portal? Plötzlich verspürte er einen scharfen Schmerz im rechten Oberarm. Zwei Metallspitzen steckten darin, spiralige Kabel führten zu… Elektrischer Strom wogte entsetzlich durch seinen Körper, sein Kiefer verkrampfte sich, die Fäuste ballten sich unnatürlich stark, sein Körper krümmte sich wie ein Klappmesser. Ohne etwas dagegen tun zu können fiel er in wellenartiger Agonie zurück in den miefigen Haufen. Der Stromfluss brach ab. Er konnte atmen, aber kein einziger Muskel seines Körpers wollte ihm gehorchen. Er spürte hilflos, wie ihm Speichel aus dem Mundwinkel lief. Er hörte, wie jemand auf ihn zukam, dann wurde er auf den Rücken gedreht, ein grelles, blauweißes Licht schien ihm ins Gesicht und er hatte sogar Schwierigkeiten, die Augen zusammenzukneifen. Die Maske wurde ihm heruntergerissen und Viktor hörte, wie sie irgendwo einige Male scheppernd über den Boden sprang und dann liegenblieb.
"Auf die Sekunde genau. Ganz erstaunlich. Willkommen, Herr Eißner. Ach was, ich sage Viktor, das ist doch viel netter. Mal sehen… Sehr schön, alles noch da. Ich dachte schon, die Foundationkurpfuscher machen irgendwas kaputt."
Der Mann, den Viktor immer noch nicht sehen konnte, ging um ihn herum und packte ihn unter den Achseln und begann ihn wegzuschleifen.
"Du siehst sehr gesund aus, mein Junge, viel athletischer als beim letzten Mal! Stehst gut im Futter, höre ich."
Viktor sah nun, dass er sich in einer Art übergroßem Abstellraum befand, linkerhand führten zwei Metalltreppen nach oben zu einer kleinen Plattform, eine Stahltür war dort in die Betonwand eingelassen. Darunter befanden sich zwei grünlackierte Doppelspinde. Rechterhand erkannte er zahlreiche industrielle Reinigungsgeräte, einen schlampig zusammengerollten Feuerwehrschlauch, sowie, aufgehängt an der Wand, eine ganze Batterie von Feuerlöschern.
"Ich entschuldige mich für die Umstände, dieses Polstermaterial… Wirklich viel besser als beim letzten Mal, ich bedanke mich, dass du so gut auf meine wertvolle Arbeit aufgepasst hast. Böse bin ich dir natürlich trotzdem."
Viktor wurde hochgehievt und der Mann wuchtete ihn unter deutlich hörbarer Anstrengung in eine Art Zahnarztstuhl. Passend dazu schien Viktor wieder ein blendendes Licht ins Gesicht. Scheiße, was war hier los? Seine Gliedmaßen kribbelten, bald würde er wieder die Kontrolle haben. Doch da irrte er sich. Seine Arme wurden mit Gewalt zur Seite gebogen und ein Schnappen verriet, dass sie fixiert wurden. Dasselbe geschah mit seinen Beinen. Das Licht wurde weggedreht und das Gesicht des Angreifers kam in sein Sichtfeld. Rötlicher, gepflegter Vollbart, Seitenscheitel, irreführend freundliche, wasserblaue Augen. Viktor erkannte ihn. Es war der verdammte Scheißkerl, der ihn mit seinen Augentropfen zur Anomalie gemacht hatte. Sein unwillkürliches, wütendes Aufbäumen zeigte Viktor, dass er sich schon wieder besser bewegen konnte, als gedacht.
"Ah schön, du erkennst mich wieder. Jetzt muss ich aber mal ein Hühnchen mit dir rupfen. Wir hatten gerade unsere Zusammenarbeit begonnen und du hast nichts Besseres zu tun, als zur Foundation zu rennen. Ich war sehr, sehr enttäuscht."
"K…ann mich nicht er…innern, das "Du" angeboten zu… haben, Sie… Arschloch."
"Na, ich verstehe ja deine Verstimmung, aber bitte ärgere mich nicht. Weißt du, wäre es anders gelaufen, wären wir sicher Freunde geworden. Was aus dir geworden wäre… Ein Jammer, all die Upgrades, die ich in der Zwischenzeit ausgetüftelt habe. Geräusche sehen. Erinnerungen sehen!", schwärmte der Verrückte und ging irgendwohin.
"Ich verzichte. Und… jetzt? Erzählen Sie mir den ganzen… teuflischen Plan und dann… kommt der Laserstrahl, der mich in vierzig Minuten aus…einanderschneidet?"
Viktor schaffte es den Kopf zu drehen, um den Kerl im Auge behalten zu können. Er zog gerade einen Rollwagen heran, auf dem Viktor kurz Spritzen und Operationsbesteck sehen konnte. Nicht gut, dachte er und bekam es nun langsam wirklich mit der Angst zu tun. Der Arzt, wenn man ihn denn so nennen wollte, lachte kurz keckernd.
"Ach nein, ach nein. Ich nehme mir nur, was mir gehört, das ist alles. Als erstes eine Blutprobe."
Er hielt eine Spritze hoch und lächelte aufmunternd.
"Mit sowas wurde mir vor zehn Jahren oder… so das letzte Mal etwas abgezapft. Und Sie nennen die… Foundationärzte Kurpfuscher… Sie… Hinterwäldler-Dr. Eisenbart?"
Die Miene des Mannes verfinsterte sich augenblicklich. Der Schuss war ein offensichtlicher Volltreffer gewesen. Er legte die Spritze weg.
"Nein, du dummer Junge. Da hätte ein lokales Betäubungsmittel hineingehört, für das, was danach kommt. Aber es geht selbstverständlich auch ohne", grollte er.
"Wie wollen Sie die Fibrillen extrahieren?", wollte Viktor wissen, sein Sprachapparat funktionierte wieder, glaubte er und ballte probehalber die Fäuste. Auch das funktionierte.
"Die Fib…?", machte der der Andere konsterniert, dann lachte er auf, wieder bester Laune.
"Gar nicht. Die bleiben schön da, wo sie hingehören. Warte, ich zeige dir einmal etwas."
Er machte sich kurz außerhalb von Viktors Gesichtskreis zu schaffen. Dann hob er zwei Dinge hoch:
Das eine wirkte wie eine unschöne Kreuzung aus einem Eiskugelstecher und einem Dosenöffner. Das andere war eine Box aus Styropor mit einem gelben Trageband. Viktor kannte solche Kisten. Man transportierte darin Organe vom Entnahme- zum Transplantationsort. Verdammte Scheiße, dachte er.
"Doktor! Auf ein Wort!", rief jemand.
Der Mann fuhr herum. Oben auf der stählernen Plattform standen der graue Koloss und die Frau mit der realitätsverspottenden Maske. Das wurde ja immer besser. Sie mussten irgendwann durch die Tür gekommen sein, als Viktor nicht darauf geachtet hatte.
"Sie! Was wollen Sie? Wir haben einen Vertrag, Sie und ich! Sie haben eingewilligt, ihn herzuschicken", rief der Mann. Viktor hörte, dass Angst in seiner Stimme mitschwang und Hoffnung keimte in ihm.
"Kann mich nicht erinnern was unterschrieben zu haben, nicht mal nen Händedruck gab es", sagte die Frau ruhig.
"Was soll das?"
Die Frau nahm dem Riesen gelassen ein Glas Punsch aus der Hand und trank aufreizend langsam davon.
"Wollte nur sagen, dass mir ganz und gar nicht gefällt, was Sie da machen."
Viktor frohlockte. Deus-Ex-Machina, wie schön.
"Ihr habt, was ihr wolltet. Ihr könnt ihn nicht haben, das da gehört MIR!", schrillte der Arzt.
"Ach so, ja, Moment."
Viktor sog scharf die Luft ein. Hinter der Frau verfärbte sich die Wand ins Schwarze. Sie griff hinein und zog einen Koffer hervor. Die Schwärze verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Der Widderköpfige nahm ihr den Koffer ab, lies die Verschlüsse aufschnappen und warf ihn dann mit spielerischer Leichtigkeit an die gegenüberliegende Wand. Es knallte und Bündel von Geldscheinen flogen durch die Luft. Viktors Peiniger heulte auf.
"Ich brauche diesen Dreck nicht", stellte sie fest und legte leger die verschränkten Arme auf das Geländer.
"Sie wollen mich umbringen! Wissen Sie, was Sie zerstören?! Ich bin nicht allein, wissen Sie! Sie Betrügerin! Sie… Sie…"
"Ah, Ah, Ah. Jetzt nicht zickig werden, Doktorchen! Sie müssen lernen, besser zuzuhören. Ich habe nur gesagt, dass mir Ihre Machenschaften nicht gefallen und ich ihr Scheißgeld nicht brauche. Mit Viktor können Sie anstellen, was Sie wollen. Und seien Sie echt mal höflicher, Sie haben das Geld und den Mann. Gern geschehen."
Viktor gefror innerlich zu Eis. Die Realität wankte und die Schwärze war wieder da.
"Hey! Warten Sie! Der will mir die Augen rausschneiden!", schrie er und riss vergeblich an seinen Fesseln. Der Riese wurde vom Dunkel verschluckt, die Frau drehte ihm noch einmal den Kopf zu.
"Kann man überleben, muss man aber nicht. Sorry. Ich hab dir doch gesagt, du sollst aufpassen, wo du hintrittst. Adios!"
Sie verschwand und mit ihr das dunkle Portal. Der Mann trat triumphierend zu ihm.
"Na, das war ein kleiner Schreck, was? Ich glaube, ich nehme die Probe später und fange lieber gleich mit den Augen an, zur Beruhigung. Was denkst…"
Eine Hand griff von hinten um seinen Kopf herum und fasste seinen Kiefer. Ein äußerst scharfer Ruck nach rechts und ein scheußliches Knacken folgten. Der Mann sackte zu Boden.
"Beruhigung genug, würde ich meinen."
Viktors Gedanken überschlugen sich bei dem Versuch zu begreifen, was geschah. Vor ihm stand die penetrante Straßenräuberin und hatte gerade fachmännisch einem Menschen das Genick gebrochen.
In Anbetracht dessen, was zuvor geschehen war, wog er ab, ob die Tatsache nun etwas Gutes oder Schlechtes für ihn bedeuten mochte. Sie schien ihn zu ignorieren und inspizierte stattdessen etwas, entweder die Leiche, oder den Rollwagen. Wo war die denn nun wieder hergekommen? Sie kam wieder hoch, eine Pistole in der Hand und sagte einfach:
"So."
"Danke für die Hilfe. Sie helfen mir doch?", krächzte er, sein Mund war trocken, alles schmeckte bitter.
"Mal sehen. Kleines Licht in der Verwaltung war schon mal gelogen, Minuspunkt. Abscheulichkeit unter der Maske war die Wahrheit. Und der Rest… Was wollte der Kerl mit deinen Augen? Darf ich mal sehen?"
Viktor wusste, dass es sinnlos war, die Augen zuzukneifen, sie würde ihm sonst einfach das Lid hochziehen. Sie richtete das Licht auf sein Gesicht und er glaubte fast zu spüren, wie seine Pupillen winzig klein wurden. Der Text würde deutlich sichtbar sein.
"Interessant. Sag mir besser mal, dass du Linsen trägst."
"Tue ich", antwortete er wahrheitsgemäß.
"Beschriftete Linsen, meine ich."
"Nein. Das hat der da am Boden gemacht."
Sie begann die Verschlüsse der Fixierungen zu öffnen, nicht ohne den Hinweis, dass sie ohne weiteres schießen würde, sollte er irgendetwas Dummes versuchen.
"Der war nicht von der Foundation. Bist du es? Viel wichtiger, lüg ja nicht, bist du anomal? Vielleicht sogar ein SCP?"
Viktor kam auf die Beine und starrte in das schwarze runde Auge der Pistolenmündung.
"Dreimal ja, aber…", versuchte er zu erklären, kam aber nicht weit:
"Eindämmungsbruch also. Scheiße, ich weiß nicht mal, wo ich bin. Am besten, ich knall dich einfach ab und sage, du hast dich gewehrt."
"Ich bin Agent!", rief er hastig.
"Natürlich! Ich bin sogar im O4-Rat!", höhnte sie, fügte aber nach einem Moment hinzu:
"Aber wenigstens treu, soweit ich das sagen kann. Ich lasse nochmal Gnade vor Recht ergehen."
Sie senkte die Waffe und zog sich mit einer flinken Handbewegung Maske samt Dreispitz vom Gesicht. Viktor wünschte sich, er läge noch auf dem Stuhl, denn ihm wurde ein wenig schwindelig.
"Emilia?", brachte er mühsam hervor.
"Manchmal bist du schwerer von Kapee als ein Stück Kopfsteinpflaster", sagte sie, doch nun zitterte auch ihre Stimme ein wenig. Viktor trat auf sie zu. Dann küssten sie sich leidenschaftlich und er hatte das Gefühl, wieder den Taser abzubekommen. Nur diesmal ohne Schmerzen und Krämpfe. Er wollte sie nach der langen Zeit nicht mehr loslassen und doch lösten sie sich irgendwann voneinander. Viktor prallte zurück.
"Was ist?", fragte Emilia argwöhnisch.
"Das alte Problem. Der Geist des guten Doktors stand neben uns und hat beim Knutschen zugesehen. Lass uns mal da rübergehen. Wie kommst du hierher? Wie kann das sein? Ich verstehe gar nichts mehr."
"Ich hab eine Einladung zu dem Ball bekommen. Nur war da noch eine inoffizielle Nachricht dabei. Ob ich nicht Lust hätte dir das Leben… nein, den Hintern zu retten. Mit detaillierten Instruktionen obendrauf. Mir wurde gesagt, wo du sein würdest, was du tun würdest, wie du dich verkleiden würdest. Ich sollte kurz nach dir dasselbe Portal verwenden. Das war es."
Viktor überlegte.
"Du bist auch in den Haufen da gefallen?", fragte er.
"Nein, ich kam dort durch die Wand."
"Das hat diese Frau gemacht, jede Wette. Aber warum?"
"Welche Frau? Das ist jetzt egal, wir verschwinden von hier."
Sie marschierte zu dem Geldhaufen und steckte sich Bündel um Bündel in eine Tasche, die wohl zu ihrem Kostüm gehörte. Viktor hob seine Maske auf. Er würde sie behalten, zur Erinnerung. Die Türe über den Metalltreppen führte in eine geräumige Tiefgarage. Viktor und Emilia besahen sich die Nummernschilder der Wagen.
"Das gibt es doch nicht. Hier sind wir?", machte er ungläubig.
"Wenigstens fallen wir mit den Masken nicht auf."
"Und keiner weiß, wo wir sind…", sinnierte er laut.
"Wir haben genug Geld, um uns sogar hier ein schickes Hotelzimmer zu mieten.", erinnerte sie.
"Viel zu bereden haben wir jedenfalls", sagte er rau.
"Das auch, ja."
"Das ganze ist eine Art Geschenk… Vielleicht."
"In der Innenstadt von Venedig gibt es meines Wissens nach keine Tiefgaragen. Wir haben noch ein Stück Weg vor uns bis zum Markusplatz. Lass uns gehen", sagte Emilia praktisch.
Viktor setzte die Narrenmaske auf.
"Ja, gehen wir. Ich schätze, man sollte die Feste feiern, wie sie fallen."
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Dean legte die Widdermaske weg und verschränkte die Arme.
"Hat keine Ahnung, was Sache ist, der Kerl. Musste das so laufen?"
"Es ist nun mal so, er selbst ist nicht wirklich wichtig, aber wichtig, was das Mädchen angeht. Dein Eindruck, Chloe?", fragte Elli.
"Sie kam mir ganz normal vor… Nett."
"Und so soll es auch bleiben. Deshalb muss Viktor leben und der irre Doktor musste weg. Zwei Fliegen, eine Klappe."
"Der Telepath? Die zwei anderen? Hätten die sich nicht kümmern können? Zeitschleife, schon wieder."
Elli winkte ab.
"Alles passiert irgendwo, irgendwann. Spielt keine Rolle. Wir ziehen an der Stelle vorerst den Vorhang zu."
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"Er antwortet nicht, keine Reaktion, zu weit weg. Oder…" Johnny beendete den Satz nicht.
"Desertieren würde er sicher nicht, das passt nicht zu ihm", stellte Stephan fest.
"Ist er… tot? Wenn er tot ist… dann werde ich…", sagte Mathilda sehr gepresst, Tränen standen in ihren Augen. Alice ging in die Hocke und legte ihr die Hände auf die Schultern.
"Nein, Kleines, alles kommt ins Lot, du wirst sehen."
Bell zog zwei Dinge aus ihrer Tasche. Es handelte sich um eines von Viktors T-Shirts und um seine Halskette, die er nicht auf dem Ball getragen hatte. Sie drückte Johnny beides in die Hand.
"So funktioniert das nicht. Ich bin kein Bluthund!", sagte Johnny.
"Mach einfach, was ich sage. Gib mir die andere Hand. So. Das kitzelt vielleicht ein wenig. Und jetzt nochmal."
Johnnys Augen wurden glasig. Einige Sekunden verstrichen. Dann hellte sich sein Gesicht auf, um gleich darauf einen erstaunten Ausdruck anzunehmen. Dann errötete er.
"Was ist?!", rief Mathilda und schlug mit der flachen Hand auf seine Hüfte.
"Es… ähm… geht ihm gut. Gerade ist er ein bisschen verstimmt, wegen mir. Ich störe ziemlich. Er wird sich melden und alles erklären."
"Auf die Erklärung bin ich sehr gespannt. Ich kann dann wieder alles unter den Teppich kehren", machte Bell grummelnd, aber ihr war, wie den anderen auch, die Erleichterung anzusehen.