"Das hier ist nicht gefährlich, oder?"
Der in einen hellgrauen Overall gekleideten D-Klasse Mitarbeiter namens 7-7-4-4 blickte furchtsam auf und wetzte leicht an den Lederriemen, die seine Arme an einen Metallstuhl fixierten. Der leichte Schweißfilm auf seiner Stirn und die kränkliche Blässe, die sich von seiner Nase aus über seinen Glatzkopf verteilte, unterstrichen nur seine Besorgnis.
"Nein", erwiderte der schlaksige Wissenschaftler, der vor ihm stand und gerade einen Herzschlagmesser an den Mann anschloss. Er hatte eine nach hinten gegelte blonde Mähne auf seinem Kopf und zeigte dem Versuchssubjekt ein schwaches Schmunzeln. Seine Kleidung bestand aus einer hellgrauen Hose und einem weißen Hemd, an dem eine kleine Identifikationskarte angeheftet war. Der dort abgedruckte Name lautete "Dr. H. Schiffer".
Sie befanden sich in einer kleinen Testkammer mit kahlen, grauen Betonwänden, einer kalten LED-Lampe und einer massiven, kantigen Stahltür. Außer dem Fesselstuhl in der Mitte des Raumes stand hier - links neben der D-Klasse - nur ein kleiner Schreibtisch aus Edelstahl.
In diesem Moment entriegelte sich die Tür mit einem lautem Klonk und gewährte den Zugang einem weiteren Wissenschaftler, welcher die Tür wieder hinter sich zudrückte. Er war etwas kleiner als Schiffer, hatte eine Brille und besaß im Gegensatz zu ihm verstrubelte schwarze Haare. Allerdings trug auch er ein Hemd - wenn auch kein weißes, sondern ein hellblaues - mit Namenskarte: Dr. W. Geiger. Zudem hielt er einen silbernen Metallkoffer in der rechten Hand.
"Entschuldigen Sie die Verspätung, ich habe die Zeit aus den Augen verloren", sagte er und stellte sein Mitbringsel auf dem Tisch ab.
"Keine Ursache, passiert jedem Mal", erwiderte Schiffer gelassen, bevor er die Verschlüsse des Koffers öffnete und ihn aufklappte. Im Inneren konnte man drei Dinge vorfinden:
In der Unterseite war ein kleiner, dunkelgrauer Laptop eingebettet, während in der Oberseite ein aufgewickeltes USB-Kabel und eine schwarze, blanke Kunststoffmaske lagen.
Schiffer ergriff letztere: Sie war schwer, und einige Gummiriemen sowie zwei kabelgebundene Ohrstöpsel hingen aus der Rückseite heraus. Schiffer drehte die Maske in seinen Händen und blickte dort zusätzlich noch auf eine Reihe an kleinen Bildschirmen und Sprühköpfen.
"So, 7744 …", rief er aus und drehte sich wieder der - gefesselten - D-Klasse zu, "wollen wir Ihnen Mal dieses Ding anlegen!"
"Hey, Doktor, bitte, das muss doch sicher nicht sein, bitt-", begann das Testsubjekt mit einer recht beeindruckenden Sprechgeschwindigkeit und einer gut hörbaren Panik - was durch das rasante Piepen des Herzschlagmessers nur bestätigt wurde. Schiffer schien das aber im Geringsten zu stören: Er zog die Sicherheitsriemen zurück, stülpte ihm die Maske über und rückte sie so zurecht, dass sie richtig auf seinem Gesicht lag. D-7744 währenddessen zitterte fast schon am ganzen Körper, und das nicht gerade schwach, während man ihn gleichzeitig durch die Maske hyperventilieren und außerhalb der Maske den Herzmesser sehr schnell piepsen hörte.
Schiffer klatschte in die Hände und blickte zu Dr. Geiger, welcher in der Zwischenzeit den Laptop hochgefahren und das Kabel angeschlossen hatte.
"So! Sind wir soweit?", fragte Schiffer. Geiger fasste sich mit der rechten Hand unter seine runden Gläser und wischte sich kurz durch die Augen, bevor er Schiffer das andere Ende des USB-Kabels reichte.
"Ja, sind wir …"
Schiffer lächelte und verband das Kabel mit dem "Kinn" der Maske, bevor er sich zu Dr. Geiger an den Laptop stellte. Auf diesem konnte man ein maximiertes Fenster sehen, bestehend aus einer Art Bearbeitungssoftware, in dem einige abgetrennte Felder mit Codes, Systemnachrichten und Werten auf einem weißen Grund gezeigt wurden. Dr. Geiger gab in eines dieser Felder eine kurze Zeile Code ein und legte seinen rechten Zeigefinger auf die Enter-Taste.
"Auf ihr Zeichen …", sprach er; seine Stimme wirkte tatsächlich ein wenig niedergeschlagen. Im Kontrast dazu aber war Schiffer recht fröhlich:
"Dann los!"
Dr. Geiger atmete tief durch den Mund ein, und drückte dann auf "Enter".
Für einen kurzen Moment geschah nichts, als der Computer noch verarbeitete, dann aber stoppte das Zittern der D-Klasse plötzlich. Vollkommen aus dem Nichts; im einen Moment Espenlaub, im anderen Brandungsfels.
Die beiden Wissenschaftler, beide mit sehr unterschiedlichem Gesichtsausdruck, starrten auf ihr Versuchssubjekt. Eigentlich verstrichen nur wenige Sekunden, für die beiden aber war es eine Ewigkeit; beiden schlug der Puls bis in den Hals, und der Schweiß stand ihnen in der Stirn.
Plötzlich, also wirklich, urplötzlich, verkrampfte sich D-7744. Jeder Muskel in seinem Körper schien sich mit aller Kraft so klein wie möglich machen zu wollen. Gleichzeitig konnte man durch die Maske ein leichtes Würgen vernehmen. Ein Würgen, das nach noch ein paar Sekunden verstummte.
Genau wie der Herzschlagmesser.
Schiffer ballte triumphierend eine Faust, während Dr. Geiger enttäuscht ausatmete.
5 Stunden später, nach Schichtende, Innenstadt Dortmunds
Doktor Wagner Geiger saß mit dem Rücken zur Wand in der hintersten Ecke eines kleinen Cafés; den Kopf auf die linke Hand gestützt, in seinen Kaffee (mit Milch, ohne Zucker) starrend. Der Test heute war … grauenvoll gewesen. Also, wirklich, wirklich, grauenerregend.
Doktor Geiger war ein Memetiker, genau wie sein Kollege Dr. Schiffer, zuständig für die Entwicklung von memetischen Wirkmitteln für die SCP-Foundation. Ein Fachbereich, der auf Menschenexperimenten angewiesen war. Natürlich, man konnte Meme durch Computersimulationen jagen, aber laut Protokoll muss jedes Wirkmittel am Menschen getestet sein. "Zur Sicherheit".
Aber … Gott, ihn schreckte schon der Gedanke an diese Maske … Eine "memetische Verabreichungsmaske Typ.4", wie sie offiziell hieß. Eigentlich eine sehr hilfreiche Apparatur, um verschiedene Wirkmittel unter klinischen Bedingungen zu testen. Einfach aufsetzen, an Rechner anschließen, Steuersoftware anmachen, Mem wählen, und fertig. Wären die Resultate nur nicht immer so grausig …
Es waren ja auch oft auch nicht mal die waffenfähigen Meme, oft reicht auch schon ein falsch gebautes nützliches Wirkmittel für katastrophale Effekte. Gespaltene Persönlichkeiten, permanente Horrortrips, Organabschaltung …
Aber Dr. Geiger blieb hier nicht wirklich eine Option. Sich entlassen lassen? Das Übernatürliche war so ziemlich das einzige Interessante in seinem Leben. Versetzung? Mit seinem Fachgebiet konnte er kaum den Menschenversuchen entkommen. Amnesika? Nein danke, er wollte keine vorzeitige Demenz erleiden; oder was auch immer sonst das Risiko dieser Drogen war. Das einzige was dem Doktor wohl übrig blieb, war einfach weiterzuarbeiten …
"Doktor Geiger?", erklang da eine weibliche Stimme vor ihm.
Der Doktor fuhr aus seinen trübseligen Gedanken hoch und stotterte:
"Wa- Ja, ja, das bin ich."
Seine Brille war im auf die Nase runtergerutscht, und er konnte auf die Nähe nur Unschärfe erkennen. Mit zwei Fingern schob er sie schnell wieder hoch und blickte auf die andere Seite des Tisches. Dort standen - in einem vermutlich respektvoll gemeinten Abstand - zwei Personen. Rechts, eine recht hübsche Frau in einer olivgrünem Regenjacke, und links ein Mann in einem offenem, schwarzen Trenchcoat und einer silbern gerahmten Pilotenbrille. Sie beide waren recht jung - vielleicht in ihren Zwanzigern - und hatten beide dunkelbraune Haare, sie langes lockiges und er zerzaustes auf Schulterlänge.
Die Frau sprach weiter:
"Dürften wir mit Ihnen sprechen?"
Dr. Geiger hatte diese beiden Menschen noch nie gesehen. Also, wirklich nie. Er versuchte schnell nachzudenken, was er antworten sollte. Die Zeugen Jehovas sprachen niemand in Cafés an, und würden nicht die Frisur des Mannes hier tragen. Vielleicht aber Swinger?
Der Mann meldete sich aber noch zu Wort, seine Stimme ungesund kratzig:
"Vielleicht würde sie es interessieren, dass wir in der selben … Branche arbeiten."
Dr. Geiger weitete seine Augen und spürte, wie sein Körper heiß lief. Die Inquisition? Nein, nicht hier. Alpha-1? Nein, das wäre noch lächerlicher. Interessengruppe? Möglich …
Die Frau warf ihrem Partner einen unruhig wirkenden Blick zu, worauf der Mann beschwichtigend seine Hände auf Brusthöhe erhob:
"Sie müssen jetzt sich keine Sorgen machen. Wir sind nicht hier um ihnen zu schaden."
Dr. Geiger atmete tief ein. Realistisch betrachtet, was sollte schon passieren? Also, wieso diese beiden Unbekannten - die offenbar von der Foundation wussten - abweisen? Am Ende sind sie dann nur wütend auf ihn, was noch weniger wünschenswert wäre, als mit ihnen zu sprechen.
Er räusperte sich und antwortete dann:
"Ehm, natürlich, setzen Sie sich ruhig."
Die beiden setzten sich an die gegenüberliegende Seite des Tisches. Eigentlich stand an diesem Tisch nur zwei Stühle, der Mann aber zog einfach einen weiteren vom leeren Nachbartisch für sich her.
Hierbei wäre einem aufmerksamen Beobachter vielleicht aufgefallen, dass der Mann seinen Blick nicht von Geiger abwand; er ergriff einfach hinter sich den Stuhl an der Lehne.
Dr. Geiger besuchte dieses Café hier häufiger - also, eigentlich fast jeden Tag. Ein kleiner Familienbetrieb mit nur ein paar Tischen und gutem Kaffee. Der Gästeraum war durch einige altmodisch aussehende Wandlampen in warmes Licht getaucht, was gut mit den weiß gestrichenen Wänden und dem hellen Holzboden zusammenpasste; die Tische und Stühle wiederum waren aus dunklem Nussholz. Außer Dr. Geiger und seinen neuen Tischnachbaren waren nur eine Handvoll an Personen, mehrheitlich Rentner, anwesend, und schielten nur vereinzelnd zu ihnen rüber.
Der Doktor rückte seine Brille noch einmal gerade und blickte zwischen den beiden hin und her, bevor er sie mit gesenkter Stimme fragte:
"Nun, weshalb möchten Sie mich sprechen?"
Die Frau antwortete, ebenfalls mit leiserer Stimme:
"Also, wir wurden vor kurzem auf Sie aufmerksam gemacht. Sie arbeiten ja zur Zeit für die Mutterfirma der Security Company Paderborn, im geisteswissenschaftlichen Bereich."
Dr. Geiger stützte seine beiden Arme auf den Tisch und legte die Hände zusammen.
"Umständliche Formulierung, aber ja, ich arbeite dort."
"Und sie haben sich sicherlich bereits Gedanken über die Moralität ihrer Arbeit gemacht. Sie wissen schon, in Bezug auf … menschliche Grundrechte."
Es wäre eine Lüge jetzt mit einem "Nein" zu antworten. Er hatte es sich schon so oft gefragt. "War es nötig?", "War es richtig?", "War es nicht zu extrem?" …
Moment aber Mal! Das hier war ein Test. Ein Test der Innenrevision, um seine Loyalität zu testen. Oh Gott! Und er war fast drauf reingefallen! Aber ja, es erschien sinnvoll: Man schickt zwei dem Ziel unbekannte Agenten und beginnt ihn auszufragen, da jeder in dieser Situation erstmal eine Interessengruppe vermutet.
"Inquisition?", fragte er die beiden Agenten. Er spürte zeitgleich ein klein wenig Triumph in sich aufsteigen; er hatte die Innenrevision überlistet!
Die beiden Befrager starrten aber verwirrt zuerst ihn, dann sich gegenseitig an. Die Frau sagte nach ein paar Sekunden:
"Was?"
Dr. Geiger schmunzelte:
"Machen wir uns nichts vor, sie testen mich hier einfach nur auf Loyalität. Ich weiß schon bescheid."
Der Mann fuhr sich mit der rechten Hand über die Stirn bevor er beide Arme auf den Tisch lehnte und mit den Fingern auf den Doktor deutete. Bevor er sprach, schien er für einen kurzen Moment nach Worten zu suchen:
"Herr Doktor … Bei allem Respekt, bi- Schauen Sie mich bitte einfach genau an."
Eine seltsame Frage, aber Geiger warf einfach einen schärferen Blick auf ihn. Also, sein Gegenüber war durchaus etwas übermäßig blass, sowohl am Kopf als auf an den Händen, aber eigentlich war nich-
Der Mann hob seine obere Lippe ein wenig an und schob gleichzeitig mit der linken Hand seine Sonnenbrille ein Stück nach unten. Dr. Geiger blickte auf einige extra Eckzähne, acht an der Zahl, und ein paar bernstein-gelber Augen.
"Oh mein Gott …", murmelte Dr. Geiger und starrte den Mann an. Anomal? Höchstwahrscheinlich. Also doch eine Interessengruppe.
"E- entschuldigen Sie beide.", stotterte er, während er versuchte sich wieder einigermaßen zu fassen.
Die Anomalie vor ihm schob seine Brille wieder hoch und antwortete:
"Kein Problem, Doktor."
Dr. Geigers Ehrlichkeit war dann also doch nicht unangebracht:
"Um auf ihre Frage zurückzukommen, ja, habe ich. Ständig."
Die Frau lächelte, nicht irgendwie bösartig oder selbstgefällig, tatsächlich ein echtes Lächeln.
"Freut mich. Ich will dann ehrlich mit Ihnen sein: Möchten Sie etwas dagegen tun?"
Dr. Geiger stockte. Eine GoI kommt auf ihn zu und will, dass er die Foundation verrät. Es war … absolut wahnsinnig - mit Betonung auf "Wahn". Man würde eigentlich erwarten, solche Rekrutierungen würden subtiler ablaufen. Aber nein, er wurde einfach nach Schichtende angesprochen und bekommt in unter fünf Minuten das entscheidende Angebot.
"W- was meinen Sie genau?"
Die Frau beugte sich ein wenig nach vorne:
"Möchten Sie etwas gegen die Foundation tuen, Doktor Geiger?"
Eigentlich hätte Dr. Geiger jetzt dankend ablehnen, gehen und eine MTF rufen lassen müssen. Dann das Schutzprogramm durchlaufen und hoffen, dass er nicht aus Rache umgebracht wird. Aber … Nein. Er würde das nicht tun.
"Ja. Ich will."
Beide lächelten nun. Geiger fuhr aber fort:
"Ich würde aber auch gerne wissen, mit wem ich es zu tuen habe."
Er wollte sich nicht etwa mit OBSKURA einlassen.
Die Frau antwortete:
"Oh, wir sind Chaos Insurgents. Sie sprechen mit der Chaos Insurgency."
Terroristen. Toll.
Sie sprach aber weiter:
"Ich weiß, die Foundation mag es, uns als machtgierige Arschlöcher darzustellen, aber bitte vertrauen sie mir: Wir sind das nicht."
Unüberzeugend.
"Wie kann ich ihnen vertrauen?", konterte der Doktor.
Der anomale Mann fuhr sich mit der rechten Hand über den Hals und antwortete hier rauf:
"Naja, wenn eine dystopische Organisation wie die Foundation, die chemische Gedächtnisslöschung und Informationszensur nutzt, eine ihnen feindliche Organisation als machthungrige Terroristen darstellt, gibt es zumindest die Chance, das das eine Lüge ist."
Geiger brauchte einen Moment, um diesen Satz zu verstehen, aber … ja. Also, das was der Mann sagte, war durchaus logisch.
Seine Nervosität nahm jetzt noch zu,, und er spürte wie sein Atem langsam anfing zu hyperventilieren. Er war sich wirklich nicht sicher, was er jetzt machen sollte. Also, er hatte ja schon zugesagt. Würden die beiden es ihm übel nehmen, wenn er jetzt doch ablehnte? Vermutlich schon, oder?
Warte, was sollte das hier eigentlich? Er hatte schon die ganze Zeit über einen Ausweg aus diesem Höllenloch heraus gewollt, und jetzt kam man extra deshalb auf ihn zu!
"Ich vertraue ihnen dann Mal."
"Sie werden's nicht bereuen", erwiderte die Frau.
Gleichzeitig griff der Mann in seinen Mantel - Geiger verspürte für eine Sekunde Panik, als er sich ausmalte, dass ihm gleich eine Waffe ins Gesicht gehalten werden würde - und zog ein kleines weißes Buch hervor, das er auf den Tisch legte.
Er erklärte:
"Ein kleines Geschenk für Sie", und tippte mit Zeige- und Mittelfinger auf den Einband.
Geiger war ein wenig verdutzt, stotterte aber noch ein "Danke" hervor.
Die beiden Insurgents erhoben sich nun von dem Tisch.
Der Mann nickte ihm zu und sagte: "Wir werden Sie demnächst für alles weitere kontaktieren. Auf Wiedersehen."
Die Frau verabschiedete sich ebenfalls mit derselben Grußformel, und die beiden gingen zur Tür.
Doktor Geiger blinzelte, und hinterfragte gerade, ob er nicht doch träumte.
30 Minuten später
Es wurde langsam dunkel, und sie waren gerade auf die Autobahn gekommen.
Zacharias "Styx" Kress saß auf dem rechten Rücksitz eines silbernen A4s. Die Sache mit Doktor Geiger war eigentlich ganz gut gelaufen; klar, der Plan ihn einfach nach Schichtende anzusprechen war vielleicht ein bisschen hirnrissig gewesen, aber es schien bei dem Mann geklappt zu haben.
Neben ihm saß seine Partnerin, Kora Roth. "Partnerin" hier übrigens nicht nur in Crime, sondern auch im Sinne einer Beziehung. Sie waren zusammen.
Das Mädel hatte sich mit angewinkelten Beinen auf ihren Sitz gelegt, Zacharias Beine zum Kopfkissen umfunktioniert und döste gerade im Halbschlaf.
Mit ihnen im Wagen befand sich zudem noch ein Mann namens Michal Vacek. Ende zwanzig, braune Strubbelhaare, Tscheche. Er war, wie Kora und Zacharias auch, Mitglied der Chaos Insurgency; um genau zu sein in einer lokalen Zelle namens "Hel".
Zacharias lehnte mit seinem Kopf an einem der Fenster im Wagen, während draußen dutzende Autos über den Asphalt rollten und vereinzelte Baumgruppen hinter den Leitplanken der Straße vorbeiliefen. Er schien auf etwas an seinem rechten Zeigefinger herumzubeißen, so als ob er etwas abreisen wollen würde, auch wenn äußerlich nichts an dieser Stelle zu sehen war.
Aber, plötzlich erklang ein leises Ratsch, und ein breites Band, gemacht einer Art buntem Gummi löste sich von der Mitte seines Fingers ab - antimemetische Kosmetikstreifen. Zacharias nahm es und schob es in eine Innentasche seines Mantels.
Ein unwissender Betrachter wäre jetzt womöglich ein wenig erschrocken, da Zacharias Zeigefinger plötzlich keine Fingerspitze mehr hatte, sondern eine dicke, braunweiße Kralle.
Zacharias war, wie seine zusätzlichen Eckzähne schon andeuteten, kein Mensch. Er gehörte einer anomalen Subspezies des homo sapiens sapiens an, die sich Verdammte nannten. Verdammte, oder lateinisch homo sapiens profanus, waren vereinfacht gesagt dämonische Menschenaffen. Sie waren generell sehr bleich, hatten von Natur aus gelbe Iriden, Krallen an allen Gliedmaßen und waren mittelschwache Psioniker. Letzteres äußerte sich durch telepathische und hellseherische Kräfte.
Die Geschichte seiner Spezies war … recht tragisch. Ursprünglich waren sie Teufelsanbieter und Hexer gewesen, wurden aber Ende des 15ten Jahrhunderts durch massiven dämonischen Einfluss selbst zu Dämonen angehoben. In den 500 Jahren danach folgten zig Anfeindungen und Auslöschungsversuche, denen die Verdammten trotzen mussten.
Zuletzt, nach dem Siebten Okkulten Krieg1, in dem einige Verdammten auf Seite der Alliierten gekämpft und das deutsche Obskurakorp die Verdammten auszulöschen versucht hatten, gewannen sie Repräsentation in der damals neuen Global Occult Coalition.
Das hatte der Spezies Luft zum Atmen gegeben: keine Massenexekutionen mit Weihwasser, keine Zwangsdeportationen, keine Brandbombadierung mehr. Die meisten Verdammten gaben sich damit zu Frieden, lebten ihre Leben in den Schatten - in ihren alten verfluchten Städten und Dörfern, in den Taschendimensionen der Freihäfen, oder mit Glamouren und anderer Maskerade unter der "normalen" Bevölkerung.
Zacharias war keiner dieser Verdammten. Ihm war sehr wohl bewusst, dass seine Spezies immer noch unterdrückt wurde. Sie passten nicht in den Konsens, und hatten deshalb für die Mehrheit des Planeten nicht zu existieren. Natürlich, dieser Konsens war vollkommen fabriziert, oder, eher, es war der Konsens einer extremen Minderheit.
Die Frau auf seinem Schoß, Kora, teilte übrigens dasselbe Schicksal: Sie war zwar vollkommen menschlich - keine Verdammte, keine Fee, keine Gorgone - aber … nun, ebenfalls nicht der Konsensrealität entsprechend.
Wagner saß - aufrecht wie eine Kerze - bei sich zuhause auf dem Sofa - die Arme verschränkt - und hinterfragte seine Entscheidung. Er spürte seinen Puls hämmern wie einen Presslufthammer, und auch wie sein linkes Bein begann zu zittern. Schnell presste er seine Hand darauf, um es still zu halten.
Er war vor fast schon 15 Jahren in die Foundation eingetreten, kurz nach seinem Abschluss in Neurologie. Er hatte damals eine kleinere Arbeit bei diversen Fachzeitschriften eingesendet, über eine potentielle Stimulierung von bestimmten Gehirnarealen durch Fraktale. Da er damit mehr oder weniger die Existenz von Memen postuliert hätte, wurde die Foundation auf ihn aufmerksam und bat ihm eine Stelle als Juniorforscher - oder eine Amnesizierung - an. Er hatte angenommen und sich in den folgenden Jahren zum Ko-Leiter der memetischen Entwicklung hochgearbeitet.
Und nun, er hatte in dieser Zeit schon ein paar Mal von der Insurgency gehört:
Terroristen, die Anomalien nur dazu nutzten, um sich mehr und mehr Macht anzueignen, und Diktatoren und Terrorgruppen unterstützten. Das war das übliche Bild.
Die beiden heute aber … Naja, Wagner fand sie irgendwie sympathisch. Und einer der beiden war selbst anomal, was irgendwie dem Bild der ausgebeuteten Anomalien widersprach.
Auf der anderen Seite … Bei der Foundation arbeitete er wirklich mit manchen Personen zusammen, bei denen es ihm kalt über den Rücken lief. Die Standortleiterin, O4-4 zum Beispiel, war vollkommen durchgeknallt. Oder sein Ko-Leiter in der memetischen Entwicklung, Dr. Schiffer … Oh Gott, den Mann erfreute es, wenn Experimente tödlich oder schmerzvoll verlaufen …
Aber, er lieferte Resultate und war nicht zu verschwenderisch mit den restlichen Forschungsressourcen, was anscheinend ausreichte, dass die Direktoren ihm Spielraum mit dem Ethik-Komitee ließen.
Und Dr. Geiger bezweifelte, dass die Foundation nicht noch mehr Leichen im Keller hat.
Wagner stand von seinem Sofa auf und wandte sich auf das dahinter gelegene Fenster hinaus auf das nächtliche Dortmund. Er wohnte in einer kleineren, 3-Zimmerwohnung in einem etwas besseren Viertel, und wohnte alleine. Er hatte nicht wirklich jemanden; keine liebende Freundin oder einen treuen Saufkumpel; er verbrachte seine Zeit mit seiner Arbeit und den Tierdokus im Fernsehen.
Aber ein Leben als Terrorist? Auf ewig von der Foundation für seinen Verrat gejagt?
Er wusste wirklich nicht, wie er jetzt wieder aus dieser Situation herauskam …
Da kam ihm aber etwas anderes in die Gedanken: Das Buch. Das Buch, das ihm der Insurgent geschenkt hatte. Er hatte es sich bisher noch gar nicht angesehen!
Aber wo war es?
Wagner blickte sich um; er war vor vielleicht einer halben Stunde aus dem Café endgültig heraus gegangen, da hatte er das Buch … Noch in seiner Hand. Ja, er hatte es die ganz Zeit ziemlich verkrampft gehalten. Danach war er hier zur Wohnung gerannt, die Treppe hoch in den dritten Stock, hatte vor lauter Zittern das Schloss kaum aufgekriegt, war hier hinein - ihm fiel da gerade ein, dass die Tür nicht abgeschlossen war, weshalb er in den Eingangsflur lief - hatte seine Jacke aufgehängt und …
Er stand jetzt in seinem Eingangsflur, einem schmalen Vorraum, der dazu da war um seine Kleidung abzulegen; Wagner hatte seinen recht spärlich eingerichtet: Mehrere Wandhacken und eine Matte für Schuhe rechts, links eine schmale Kommode mit Tonschale für Schlüssel darauf. Und neben eben dieser Schale lag das Buch.
Wagner löste seinen Blick nicht davon, als er aus der Schale seine Schlüssel hob, und einen Schritt zur Tür machte. Dort wandte er sich nur kurz ab, um das Schloss zu verriegeln, und lief dann sofort wieder zurück in seine Küche, das Buch im Laufen aufhebend.
Ja, sein Sofa - genau wie sein Fernseher - stand in der Küche. Die vordere Hälfte, wo auch die Tür lag, war das Wohnzimmer, wobei er den Fernseher mitten in dem Raum auf eine weitere Kommode gestellt hatte, während die hintere Hälfte eine kleine Küche und einen für ihn doch zu großen Esstisch mit auch zu viel Stühlen, zwei nämlich - hatte.
Er ließ sich auf einen dieser Stühle fallen, legte die Schlüssel auf die Tischplatte und betrachtete das Buch. Sein Körper schüttete gerade Unmengen Adrenalin aus, was das jetzt vermutlich zu einer der energiegeladensten Leseerlebnisse seines Lebens machen würde.
Vor sich hielt ein kleines, vielleicht 200 Seiten langes Buch im Taschenformat, mit einem weißen Softcover, auf dem in schwarzer Schrift aufgedruckt war:
C. Haos
Die Unterdrückung
der Realität
Eine Analyse der Konsensrealität
UNDERWORLD Publishing
Wagner hatte noch nie von so einem Werk gehört, oder von einem Verlag namens "UNDERWORLD Publishing". Außerdem wirkte "C. Haos" wie ein schlechter Witz.
Er drehte das Buch um und warf einen Blick auf die Inhaltsangabe.
"Eine materialistische Analyse des globalen Schleiers durch den Paramenschenrechtler und Widerstandkämpfer Kommandant Haos. Ursprünglich 1935 als privates Manuskript geschrieben, wurde das Buch erst 1958 in leicht angepasster Form veröffentlicht.
Haos beleuchtet in diesem Werk insbesondere die folgenden Themen: Den Aufbau des Konsensrealität, die Historie des Schleiers, die daraus folgenden Konsequenzen und mögliche Lösungen."
Das war … interessant. Also, erstmal, "Commander Haos" macht dann doch mehr Sinn als der Wortwitz den er vermutet hatte, und zweitens … Wagner war überrascht, dass es sowas gab. Also, ihm war bewusst, dass es in anomalen Kreisen Kritik am Status Quo gab, aber er war nie von einer publizierten schriftlichen Kritik in dieser Form ausgegangen. Mehr … Nun, Kultisten und Unmenschen, die in irgendwelchen dunklen Gemäuern sitzen und über die Foundation hetzen.
Er schlug das Werk auf. Die erste Seite war eigentlich nur eine etwas kleinere Version des Covers, die zweite aber die "normale" Seite mit rechtlichen Angaben. Es war nur überraschend, sie hier zu sehen:
Der Verlag war laut dieser Seite aus "Backdoor Soho", hatte eine eigene Art Internetseite, eine … Void-Adresse? und hatte das Buch mittels … dämonischer Schaltkreise übersetzt … Toll, ein Haufen anomalen Jargons, das ihm kaum etwas sagte. Ihre Website könnte er zwar theoretisch besuchen, aber Wagner zweifelte, ob sowas eine schlaue Idee war …
Den Rest hatte er aber wohl auf eine andere Weise herausfinden zu müssen …
Er blätterte weiter und stieß auf einen in fetten Großbuchstaben geschriebenen Hinweis auf der rechten Seite:
WARNUNG
DIESES WERK NIMMT DIREKTEN BEZUG AUF DIE PARANORMALE WELT.
DAS AUFFINDEN DIESES WERKES IN IHREM BESITZ KANN IHRE FREIHEIT ODER AUCH IHR LEBEN RISKIEREN.
BITTE ACHTEN SIE AUF IHRE SICHERHEIT UND DIE IHRER LIEBSTEN.
Wagner fühlte sich ein wenig unwohl mit diesem Hinweis. Also, dass man solche Warnungen in Bücher drucken musste, war schon bedrückend.
Er blätterte noch einmal um und fand ein Inhaltsverzeichnis vor:
Das Buch hatte eine Einführung, vier reguläre Kapitel, und dann noch ein Nachwort, alles auf 262 Seiten.
Wagner blätterte noch einmal um und begann den eigentlichen Text zu lesen.
…
…
…
…
Er hing wie ein schlaffer Sack in seinem Stuhl und blickte zu einer kugelrunden Lampe hoch, die von der Decke hing; das warme Licht begann langsam in seinen Augen an zu stechen.
Er hatte sich die Welt bisher immer so vorgestellt: Es gab die normale Welt, die die Foundation schützte, und Anomalien, also Phänomene, die nicht der normalen Welt entsprachen und deshalb durch den Schleier unter Verschluss gehalten wurden, bis sie in die normale Welt passen würden.
Aber … Ihm wurde in diesem Buch das Gegenteil gelehrt.
Es war nämlich so: Der Schleier war nicht etwa errichtet worden, um das Unmögliche zu erforschen, sondern um das Mögliche auszuschließen. Das Verständnis und die Akzeptanz hinter dem "Anomalen" hatte einfach hinter dem des "Normalen" hinterhergehinkt - geschuldet an Jahrhunderte von vorangeganger Anfeindung und Furcht - was einige Wissenschaftler und Militärs im 19ten Jahrhundert dazu geführt hatte, zu denken, es gäbe einen tatsächlichen Unterschied der beiden Kategorien, wenn in Wahrheit beides vollkommen normal ist.
Darauf folgten massive Masseneindämmungen und … Säuberungen - Wagner war übel geworden als er das gelesen hatte - um den Schleier weiter und weiter durchzudrücken. Laut dem Text war dabei Europa erst nach dem zweiten Weltkrieg voll betroffen gewesen.
Das perfideste dabei war aber, dass als dann das "Anomale" durch Parawissenschaften begann, aufzuholen, wurden diese einfach genauso verfolgt.
Die Menschheit war in einem Meer aus Wissen, auf einer Insel aus Lügen.
Wagner … Er fühlte sich wie ein Narr. Er war Memetiker, er arbeitete buchstäblich mit einer Parawissenschaft!
Und in seinen gottverdammten 15 Jahren hatte er kein einziges Mal wirklich darüber nachgedacht, wie das Sinn machen sollte. Es war ja nicht mehr "unerklärt", wenn man es erklären konnte. Herrgott, er selbst hatte als einfacher Neurologe die Memetik "wiederentdeckt"!
Aber: Es gab Auswege. Man konnte den Schleier abschaffen.
Haos beschrieb dazu seine Idee: Man musste eine Organisation schaffen, die den Schleier und seine Verteidiger bekämpfte, und anschließend die Fusion des Anomalen und des Normalen sicher gewährte.
Das war die Insurgency.
???
In einem in Dunkelheit getauchten Arbeitszimmer saß eine einzelne Person hinter einem massiven Schreibtisch. Von ihr war lediglich eine Silhouette erkennbar, die von mehreren großen Monitoren an der Wand hinter ihr erschaffen wurde.
Ein leises Piepsen ertönte von irgendwo auf dem Schreibtisch, das von einem mechanischen Klacken unterbrochen wurde; ein Telefonanruf war eingegangen und angenommen worden.
Die der Technologie entsprechend leicht verzerrte Stimme einer jungen Frau ertönte.
"Sir, wir haben den Bericht der Hel-Zelle erhalten."
Die Person öffnete seinen Mund langsam und antwortete, jedes Wort sorgfältig gewählt und ausgesprochen. Ihre Stimme war die eines Mannes:
"Danke, ich werde mich darum kümmern."
"Wie Sie wünschen, Sir."
Das Telefon legte auf.
Der Maschinist schnaubte erfreut.
"Wie geplant …"