Kapitel 5: Leiser Schnee
Die kalte, stechende Luft machte es schwer zu atmen. Die kleinen, unterschiedlichen Schneeflocken rieselten leise auf die nächstgelegenen Hütten und Nadelbaumäste. Die bereits am Boden angesammelte, dicke Schicht an Weiß erschuf einen unendlich großen Teppich aus gefrorenem Wasser. Der hohe Himmel, so düster, finster und grau, blickte auf dies alles, und lachte wahrscheinlich über eine solch einfache und traurige Welt, die sich mit bloßem gefrorenem Wasser überdecken lässt. Dabei ist der Himmel in der Lage solch eine Schönheit zu kreieren, eine variable und einzigartige Struktur, die dann mit anderen, ebenfalls unterschiedlichen Strukturen diesen dicken Teppich bildeten. Solch eine Schönheit ist etwas außerirdisches, etwas fremdes. Nur die reine Stille ist etwas weit schöneres, zusammen jedoch, bildeten sie eine traurige und einsame Stimmung. Die Natur, solch schöne Gestalt, war alleine. Der auf diesem Teppich, mit dem Gesicht nach unten liegende Junge, konnte jedoch diese Schönheit nicht wahrnehmen. Seine Augen, noch so jung und unschuldig, waren bereits eingefroren.
Er bereute es. Oder vielleicht auch nicht. Er wusste es selber nicht, ob er dies verdient hatte, oder ob diese Welt ihn bloß nicht mochte. Doch es würde rein gar nichts ändern. Er wusste bereits nicht, ob die Zeit angehalten hat, oder ob dies nur sein Blut war, das langsam einfrierte. Doch auch dies würde nichts ändern. Ein kleines Leben, irgendwo im Nirgendwo, so schwach und unwichtig, schwand langsam dahin. Niemand würde um dieses Leben trauern, erst gar nicht sich daran erinnern. Unbedeutend und unwichtig, bloß ein weiterer Tod in den Massen dieser Welt.
Schritte. Leichte, aber stabile Schritte kamen dem Jungen näher. Nicht in der Lage auch nur einen einzigen Muskel seines Körpers zu bewegen, war der Junge gezwungen auf dem weißen Teppich liegen zu bleiben. Die Schritte kamen immer näher. Der Junge wusste nicht ob er sich vor diesen Schritten fürchten, oder in ihre Richtung einen Hilfeschrei werfen sollte. Bevor er sich entscheiden konnte, hatten die Schritte aufgehört. Die entsprechende Person stand nun vor ihm, doch der Junge konnte die Person nicht erkennen, da seine Augen bereits ihren Sinn verloren hatten. Seinen Namen hatte er vergessen.
"Bereust du es?"
Der Junge konnte Worte erkennen, ausgehend von der Richtung der Person. Sie klangen jung, vielleicht etwas älter als der auf dem Schnee liegende Junge selbst. "Bereust du dein Leben?", wiederholte die junge Person etwas abgeändert. Ob er es bereute? Diese Frage hatte er sich selber oft gestellt. Als er geschlagen wurde, als er beleidigt und niedergemacht wurde, als das Blut aus seinen Wunden nicht aufhören zu fließen wollte. Jedes Mal stellte er sich selber diese Frage. Jedes einzelne, verdammte Mal.
"Du siehst lächerlich und bedauerlich aus."
Und was zur Hölle sollte er tun um dies zu ändern? Schon längst ist seine Kraft aus seinem Körper verschwunden, schon als er praktisch "herausgeworfen" wurde. "Was soll ich dann tun?", wollte der Junge die Person fragen, doch die Worte wollten einfach nicht herauskommen. Seine Lippen waren zu schwer geworden. Er merkte, wie die Schneeflocken auf seinem Gesicht landeten. Der Schauer, der über seinen Körper unaufhörlich lief, wollte einfach nicht aufhören, obwohl er die Kälte nun nicht mehr spürte.
"Weißt du überhaupt, warum du so behandelt wurdest?"
Gute Frage. Weil er anders war? Weil er etwas konnte, was andere nicht konnte? Weil die anderen Angst vor ihm hatten? Wahrscheinlich all das zusammen, aber was für einen Unterschied würde es denn machen? Würde es seine blauen Flecken heilen? Würde es seine seelischen Wunden schließen? Würde es ihn endlich erlösen? All diese Fragen, wertlos, zu keinem Ergebnis führend.
"Du kannst nicht mehr sehen, nicht wahr?"
Richtig. Wann er seine Sicht verloren hat, hat der Junge schon selber vergessen. Es ist auch egal. Alles ist egal. Wertlos. Er, die Welt, alles um sonst. Was für einen Sinn hat denn sein Leben in einer solchen Welt? Es wäre einfach besser wenn er verschwinden würde.
"Läufst du davon?"
Mag sein, aber was wenn er dies tun würde? Das würde doch auch nichts mehr ändern.
"Steh endlich auf, was liegst du so faul auf dem Boden?"
Wie denn?!
"Solange du noch Sinne hast, kannst du dich noch orientieren. Alles andere ist unwichtig. Wenn du jetzt aufgibst, kannst du nur dich dafür schuldig machen."
Der hat gut reden, was? Aufgeben, solch ein nutzloses Wort. Aufgegeben hatte er doch schon vor einer langen Zeit. Er sah bereits keinen Sinn mehr, das Licht am Ende des Tunnels ist verschwunden.
"Schwächling!"
Die Stimme der Person wurde lauter. Sie schrie den Jungen mittlerweile förmlich an. Ein Echo entstand und hallte durch das verschneite Tal. Die Umgebung wiederholte das Wort immer wieder, so, als ob die Natur und die Welt auf der Seite der Person standen. Der Junge versuchte etwas zu sagen. Er versuchte die Person zu fragen, wie er denn stark werden könnte. Wie er seine Situation ändern könnte. Er versuchte aufzustehen, doch auch daran scheiterte der Junge. Nur ein Zittern konnte er hervorbringen.
"Willst du etwa als Schwächling hier, im Nichts einfach so sterben? Willst du etwa einfach nur hier rumliegen und darauf hoffen, dass dich jemand rettet? Hm, willst du das?"
Das Echo wurde stärker und stärker, die Wörter spießten den Jungen förmlich auf.
"Na los, sag' es mir! Sage es mir ins Gesicht!"
Nein…
"Willst du das wirklich?"
Nein.
"Du willst wirklich ein niemand bleiben und hier, in diesem Drecksloch sterben?"
Nein, nein!
"Was ist?!"
Nein! So wird er es nicht enden lassen. Diese grausame Welt, dieser Abschaum, so wird es nicht enden. Er wird es ihnen noch zeigen. Der Junge knirschte seine Zähne zusammen. Die Muskeln schmerzten, die Wunden bluteten. Alles tat weh. Doch er versuchte aufzustehen, so wird er es garantiert nicht enden lassen. Er wird aufstehen, er wird stark werden und er wird sich noch an dieser dreckigen Welt rächen. Was glaubt die Welt eigentlich, wer er ist?!
Mit aller Kraft, die noch in seinem Körper übrig war, versuchte der Junge aufzustehen. Zuerst rührten sich seine Beine, dann seine Arme. Er versuchte sich mit ihnen zu stützen, doch es klappte nicht. Also versuchte er es erneut. Und noch ein Mal. Und noch ein Mal. Und noch ein Mal. Seine Finger waren eingefroren und schmerzten höllisch, seine Füße fest wie Stein und er selber mager bis zum Skelett. Und trotzdem versuchte er sich aufzurichten.
"Los! Schneller! Steh' endlich auf!"
Der verdammte aufgetaute Schnee machte es schwierig eine Stütze zu finden. Nichtsdestotrotz, biss sich der Junge auf die Lippe. Er konnte sein Blut schmecken, es war noch warm. "I-.. Ich-… will nicht-.. sterben!", brachte der Junge heraus. Nein, hier sterben würde er ganz bestimmt nicht!
Der Junge fand endlich einen Halt und stütze sich halbwegs mit seinen eingefrorenen Armen am Boden ab. Als nächstes waren die Beine und der Rest des Körpers dran, doch bevor er dies umsetzen konnte, rutschte er aus.
Unbekannte Arme fingen ihn auf. Die Person, noch vor einer Sekunde so fern, hielt den Jungen in ihren Armen. Sie waren warm, der Junge verbrannte sich fast an ihnen. Zwar konnte er die Person nicht sehen, doch er spürte einen Mantel und etwas, was womöglich ein Schal war. Eine fremde, aber beruhigende Wärme umarmte den Jungen voll und ganz. "Das hast du gut gemacht", sagte die Person. "Nun, da du dich entschieden hast, musst du auch zu deinem Wort stehen."
Das wird er. Der Junge leistete sich selber einen Schwur. Aus seiner Lippe floss immer noch Blut, doch das war ihm nicht wichtig.
"Du wirst dich nun nicht auf deine Augen verlassen, sondern auf dieses Geräusch", die Person, wie es sich anhörte, reichte in ihre Mantel- oder Hosentasche und entnahm daraus etwas. Der Junge erkannte einen klaren Ton eines kleinen Glöckchen.
"Lass uns nun gehen. Du bist nun mein Kamerad", sagte plötzlich die Person.
"Heute ist dein neuer Geburtstag. Heute gehst du in die Welt als neuer Mensch, und damit du dich an diesen Tag erinnerst, bekommst du von mir einen neuen Namen."
Einen Namen? Verdiente der Junge denn sowas?
"Dein Name soll lauten…"
Ein Name. Ein neues Leben. Ein Neuanfang. Eine neue Chance. Dieses Mal, wird es anders verlaufen.
"… Gevurah."
Kapitel 6: Kenotaph
Eine Traumwelt entfaltete sich vor seinen Augen. Der sanfte Wind streichte seine Wangen und diese Welt, gefüllt mit unendlichen Klatschmohnfelder, war eine noch nie zuvor betrachtete Sicht. Die blutroten Blumen wehten in den Böen und verbogen ihre kleine, dünne Stämme. Diese Welt, in einer solch schönen Tracht, schien so, als würde sie den in der Mitte stehenden Mann einladen, diese Welt endlich als eigen zu betrachten. Eine Welt ohne Gewalt, Streit, Auseinandersetzungen, Trauer, Sucht, Geiz, Gier, Neid, Stolz, Lust und Zorn, so war diese Welt, rein und vollkommen. Er sah diese Welt nun immer öfter, immer stärker versuchte sie ihn zum Schlafen zu bringen. Er wusste, dass seine Sinne ihn nicht täuschten. Solange er lebte, würde ihn der Duft der Mohnblumen erreichen. Doch der letzte Schlaf würde ewig sein, denn diese Welt, so schön sie auch zu sein schien, war die Welt der Trägheit des Herzens.
"Hörst du mir zu, Verständnis?"
Kurz zuvor noch wie eingefroren, kehrten die Sinne von Binah zurück.
"Tut mir leid, könntest du das bitte wiederholen, Schönheit?"
Tiferet seufzte, "… ich sagte, dass es bereits eine Woche her ist, dass die Krone und das Wissen verschwunden sind. Es muss etwas passiert sein…" Tiferet blickte in die Ferne. "Wurden sie gefangen genommen?"
"Nein, dass sie gefangen genommen wurden ist unrealistisch. Das Wissen sollte in der Lage sein, den Kräften der Foundation auszuweichen, vor allem nachdem er bereits früher gefangen wurde. Es würde mir außerdem sehr komisch vorkommen, wenn ausgerechnet die Krone gefangen genommen wurde."
"Hm." Tiferet verfiel kurz ins Überlegen, und fuhr mit ihrer Hand durch ihre lange, blonde Haare. Sie holte, ohne hinzuschauen, ein Buch aus dem Regal neben ihr, setzte sich auf einen Sessel und schlug ihr rechtes Bein über das andere. Binah schaute ihr gespannt zu.
Mit ihrer freien Hand schlug sie das ledergebundenes Buch ohne Titel oder sonstigen äußeren Aufschriften auf.
"'Hölle und Himmel', soso", sagte Tiferet und gab einen leisen Seufzer von sich. "Was für ein interessanter Vorschlag, liebe Bibliothek", fügte sie hinzu und schaute nach oben, zur Decke des riesigen, mehrstöckigen Raumes, vollgestellt mit Regalen mit den verschiedensten Büchern.
Binah, immer noch daneben stehenden, beobachte Tiferet und ihre Aktionen. Nachdem sie kurz davor war sich in das Buch zu vertiefen, fing er doch noch an zu sprechen.
"Was hältst du von dem Wissen?", fragte er Tiferet.
"Wissen? Hm. Nun, er ist schon öfters aufgefallen, aber er ist keiner, der sich kopfüber in etwas hineinstürzen würde."
"… Ja, das stimmt." Das stellte zwar Binah keine Neuigkeit dar, aber immerhin hatte er nun etwas über Tiferet erfahren. "Wo glaubst du befindet er sich jetzt?"
"Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Es ist doch so gut wie unmöglich das Wissen zu verfolgen. Er war schon immer der Experte in der Flucht und Verschleierung."
Binah blickte in Richtung der hohen Bücherregale.
"'Hölle und Himmel', huh?" Binah seufzte leicht. "Himmel und Hölle…" Tiferet beobachte diesen von der Seite.
"Interessiert es dich? Wenn du willst, könnte ich es dir…" Tiferet zeigte Binah das Buch, allerdings bemerkte sie sein konzentriertes Gesicht und verfiel ins Schweigen.
"Limbus. Die Gefallenen…", Binah schien so, als hätte er gerade etwas erfahren, das er vor langer Zeit vergessen hatte.
"Limbus?", fragte Tiferet leise von der Seite.
Für eine Weile sagte Binah nichts.
Plötzlich drehte sich Binah von Tiferet weg, "Tut mir leid, Tiferet, aber ich werde für eine Weile weg sein."
Tiferet, die zwar nicht die Bedeutung der einzelnen Wörter, allerdings die Wichtigkeit dieser verstand, wendete ihren Blick von Binah ab und öffnete das Buch. Ihre Augen hatten Binahs Worte bereits vergessen.
"Ich danke dir." Binah fing an zu laufen.
Das letzte Mal, dass Binah dort war, war als er in das Kollektiv aufgenommen wurde. Mit einer Öllampe in der rechten Hand, ging er einen langen, steinernen Gang entlang. Dieser Gang würde bei anderen sicherlich Klaustrophobie hervorrufen, doch Binah schaute nur nach vorne, in das dichte Schwarz des Untergrunds. Die Luft war kalt und ließ sich schwer einatmen. Um Binahs Schulter hing eine Tasche, in der sich ein dickes, ledergebundenes Buch befand.
Er wusste nicht wie lange er bereits ging, denn die Zeit, hatte hier unten keine Bedeutung.
Als er endliche eine alte Holztür vor sich erkennen konnte, blieb er stehen. Er zögerte etwas, griff jedoch kurz später entschlossen nach der metallenen Klinke. Vorsichtig stieß Binah die Tür nach innen auf.
Schwarz.
Binah hob die Lampe etwas hoch und hielt sie nach vorne, trotzdem war es stockfinster. Aus der Erinnerung heraus, bewegte er sich an der Wand entlang, bis er auf eine Wandfackel stieß. Binah öffnete die rostige Öllampe und zündete die Fackel an. Er wiederholte dieses Prozedere bis er ungefähr sechs Fackeln angezündet hatte.
Nachdem die Fackeln anfingen hell zu brennen, erkannte Binah endlich die Konturen des Raumes. Ein rund-geformter Raum mit kalten, grauen Steinen an den Wänden und einer scheinbar endlosen, schwarzen Decke. In der Mitte des Raumes befand sich eine aus Stein gemeißelte Statue, Binah trat dieser näher.
Die Statue war etwa zwei und halb Meter groß, deutlich größer als Binah, und wirkte ziemlich alt. Die Steinstatue stellte eine humanoide, menschliche Figur dar, die mit ihren beiden Armen einen langen Stab umarmte. Das Gesicht der Figur wurde zerschlagen und stellte bloß eine raue Fläche dar. Die Kleidung schien eine Robe zu sein, die die Füße der Statue gänzlich verdeckten und an der rechten Seite dieser hing ein angekettetes Buch, das aus dem gleichen Stein gemeißelt zu sein schien. Das Buch hatte auf der Oberfläche ein eingemeißeltes Kreuz und hebräische Zeichen, die anscheinend einen Namen darstellten. Da Binah nur die Wörter "Gott" und "Licht" entziffern konnte, schrieb er das Wort in sein Buch nieder.
Binah, nach geraumer Zeit in der er die Figur von allen Seiten beobachtete, entfernte sich wieder von dieser. Er drehte seinen Kopf und blickte hinter die Figur, dorthin, wo sich in der Steinwand eine weitere Tür befand. Er trat dieser mit leisen Schritten näher.
Kurz bevor er die Klinke ergreifen wollte, lief über Binahs Rücken ein Schauer. Er drehte sich ruckartig um.
"Verdammte Engel", sagte er leise zu sich selber, während er seine Augen auf die Steinskulptur fokussierte. Nach ein paar Sekunden öffnete er die Tür mit seiner Rechten, ohne seinen Blick von der Skulptur zu nehmen. Sobald er sich in dem nächsten Raum befand, schloss er zu aller erst die Tür und wandte dann seinen Blick endlich gen Raum. Binah hielt seine Lampe vor sich hin, da er dieses Mal keine Wandfackeln neben der Tür gefunden hatte. Mit der hell leuchtenden Lampe in einer Hand, fing er an den dunklen Raum zu erkunden.
Gebilde zeigten mit Schatten ihre Form, nachdem Binah seine Öllampe nah genug an sie heranzog. Steinerne Quader, die mit einer Steinabdeckung von oben geschlossen worden sind, waren nah aneinander gestellt worden. Auf den Abdeckungen befanden sich simple Symbole, die Binah sehr gut kannte.
Binah fing an die einzelnen Quader zu beleuchten und die Symbole einzusehen. Mit langsamen und vorsichtigen Schritten trat er immer tiefer in den Raum hinein, der wiederum immer weitere Quader ans Licht hervorbrachte. Nichtsdestotrotz hielt Binah an, nachdem er nach etwas Laufen seinen Namen und eine "19" auf einer der Steinquader-Abdeckungen entdeckt hat. Er stellte die Lampe auf der Abdeckung ab, kniete sich vor dem Quader hin und griff nach seinem dunkelrotem Buch. Er öffnete es vorsichtig und blätterte für eine Weile, bis er den richtigen Abschnitt gefunden hatte. Er atmete ein Mal ein und aus, und begann zu sprechen.
"Befiehl dem Herren deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohl machen. Und wird deine Gerechtigkeit hervorbringen wie das Licht und dein Recht wie den Mittag. Sei stille dem Herren und warte auf ihn, erzürne dich nicht über den, dem sein Mutwille glücklich fortgeht."
Binah sprach mit deutlicher und sanfter Stimme, während er die Wörter aus seinem Buch las.
Als er am Ende der Seite, und somit des Textes ankam, schloss Binah das Buch und packte es in seine graue Tasche ein. Binah, mit seinen Armen gestützt, stand von seinen Knien auf und blickte auf den Steinquader.
Im Raum war eine Totenstille vorhanden, nicht mal einen Windzug gab es.
Binah verlagerte die Lampe von der Abdeckung auf dem Boden, schaute sich um und lauschte zuerst der Stille. So, als ob er erwartet hatte, dass jeden Moment etwas ein Geräusch macht und aus diesem Schwarz hervorspringt. Doch nichts ähnliches fand statt.
Er war sich nun sicher, dass er alleine in diesem dunklen, womöglich unendlichen Raum war, also tastete Binah die Abdeckung vor ihm ab. Die Abdeckung wurde nicht fixiert, also gelang es Binah diese einen winzigen Millimeter zu verschieben. Als er dies bemerkte, sammelte Binah Kraft in seinen Armmuskeln an und drückte waagerecht die Abdeckung weg. Der Raum, kürzlich noch so still, war nun mit einem reibenden Stein-an-Stein-Geräusch und Binahs Bemühungen gefüllt.
Die Abdeckung krachte mit einem hallenden Geräusch auf den Boden, nachdem Binah es endlich geschafft hatte, diese wegzuschieben.
"…"
Nach einem Blick hinein, erkannte Binah eine in mittlerweile gelbgrauen Verbänden eingewickelte menschliche Figur, die regungslos im geöffneten Steinquader lag. Die Hände der Figur lagen ruhig auf ihrer Brust und das Gesicht wurde mit einer weißen Maske bedeckt.
Binah zögerte etwas, griff jedoch schließlich langsam nach der weißen Maske und entfernte sie vom Gesicht der Figur.
"Vergib mir", sagte Binah leise, nachdem er das Gesicht der Figur gesehen hat, und schloss seine Augen. Er gab die Maske ihrem Besitzer zurück und bewegte die Abdeckung mit viel Schnaufen wieder auf ihre originale Stelle.
Binah hob die Lampe auf, bat um Vergebung ein weiteres Mal und suchte weiter.
Mit dem selben Schniefen und Schnaufen, schob Binah die Abdeckung weg. Der Steinquader, an dem ein anderes Symbol und die Zahl "12" standen, offenbarte nun seinen Inhalt. Wieder blickte Binah auf eine eingewickelte Figur mit einer weißen Maske.
Mit einer Handbewegung entfernte Binah wieder die Maske und sah in das Gesicht, welches sie verbarg.
Die Lampe, welche das Gesicht der ruhenden Person beleuchtete, zeigte eine langjährige Lüge.
Binah stellte sich aufrecht hin, und verstand nun, was hier vorging.
Eine Frage, die an niemanden gerichtet war, hallte leise durch den Raum.
"Wer bist du?"