Dinge Die Inspirieren
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Hive war sauer. Und er war traurig. Und melancholisch. Und hysterisch. Und fröhlich. Er war viele Dinge gleichzeitig, in einer Form, die ein normaler menschlicher Geist nicht erfassen konnte. Er war eine Gestalt-Intelligenz, geformt aus den Verständen von 500 Personen auf dem ganzen Globus.

Zu seiner ganz persönlichen Unzufriedenheit war er wesentlich weniger fröhlich als wütend oder traurig. Und dabei waren die Neunziger doch eine Zeit des Überflusses. Die Mauer war weg, der Kalte Krieg war vorbei und die Menschheit hatte es widererwarten geschafft, sich nicht in den nuklearen Winter zu bomben. Das Ende der Geschichte hatte man das Ereignis großspurig genannt.

Ja klar. Die Geschichte lief trotzdem weiter, du Idiot! Hives gegenwärtige Zielvorgabe war daher, zu überleben.

Viele seiner Wirte lebten in guten Verhältnissen, wo es sich lohnen würde, weitere Leute in sein Netzwerk einzugliedern, aber weit mehr lebten in weniger einladenden Gegenden der Erde. Sie sahen, was der Wohlstand kostete. Hive sah regenbogenfarbene Gewässer, sterilisiert durch ein Öl-Leck. Er sah die geschwärzten Fassaden in Industriegebieten, wo der Smog so allgegenwärtig war, dass die Menschen Kopfschmerzen bekamen, wenn sie tatsächlich mal saubere Luft atmeten. Er sah die Insel aus Plastikmüll, die sich allmählich im Westpazifik zu formieren begann, bestehend aus Abfall von der ganzen Welt.

Yup, aus dem Schlamassel kamen sie wohl nicht mehr raus. Am Ende waren Menschen doch nur Tiere, die lediglich gemerkt hatten, dass man auch andere Dinge als die eigenen Hände benutzen konnte, um sich das Leben zu erleichtern. Sie vermehrten sich, vernichteten ihre Lebensgrundlage und würden wieder weniger in Zahl werden, bis wieder ausreichend Ressourcen zur Verfügung standen. Typische Räuber-Beute-Beziehung.

Nun ja, wenn ausreichend Ressourcen zur Verfügung standen. Die Menschheit hatte sich nicht umsonst als Ereignis der Massenextinktion deklariert. Sie wussten, was sie taten und taten es trotzdem. In dieser Welt nicht zynisch zu werden, war unmöglich.

Menschen lenkten sich daher ab. Mit Sport, mit Fernsehen, mit Spielen.

Hive beschloss, sich dem hinzugeben. Er trank Alkohol, er spielte Fußball, er schleppte Sexualpartner beiderlei Geschlechts ab, er spielte Videospiele.

Eines dieser Spiele, ein RPG mit dem Namen The Story of Leina, schaffte es tatsächlich, ihn in seinen Bann zu ziehen. Sein Kompliment galt Reality Rebuilder, dem Game-Studio von Letters Entertainment, das dieses Spiel geschaffen hatte. Und die kamen nichtmal aus Japan oder Amerika, wo die großen Sachen herkamen, nein, das hier war Made in China.

Leina, die Heldin des Spiels, war in einer ähnlichen Situation wie die Menschen um Hive herum auch. Die Menschheit beraubte sich ihrer Lebensgrundlage. Nun war Leina aber eine weibliche Ingenieurin, was Hive schon mal ziemlich progressiv fand, und versuchte, mit ihren Erfindungen die Welt besser zu machen.

Das Gameplay war Klasse und sogar der Humor saß gut, daher spielte Hives Wirt bis in den späten Abend. Und Hive fragte sich, wenn mehr Menschen so dachten wie Leina, was könnte dann erreicht werden?

Dann sah er auf und sah in der Ferne rauchende Fabrikschlote. Wunschdenken.


Sein Wirt ging am nächsten Tag wieder zur Arbeit irgendwo in China. Er war völlig übernächtigt vom vielen Spielen, doch selbst mit dieser eingeschränkten Wahrnehmung sah Hive etwas, was ihn dazu brachte, den Wirt anhalten zu lassen.

In der Ferne stand ein einsames Windrad auf einem Feld. Es glänzte im Licht der aufgehenden Sonne und drehte sich gemächlich. Hive war sich sicher, dass es hier keine Windkraftanlagen gab. Und das Design … Es sah aus wie etwas aus Story of Leina.

Es dauerte ein wenig, aber dann hatte einer seiner Wirte die gewünschte Information gefunden. Letters Entertainment war im Bereich des Anomalen tätig. Dass hatte sein Gamer-Wirt bisher nicht gewusst. Er hatte das Spiel durch eine Zeitungsanzeige per Telefon bestellen können. Es war zwar teuer, aber zu gut bewertet gewesen, um es nicht zu versuchen. Man bekam sogar sein Geld zurück, wenn es einem nicht gefiel.

Okay. Nun stand da ein Windrad. Und weiter? Wahrscheinlich würde es demnächst abgerissen, weil es überflüssig war. Hive widmete sich weiter seinen Tagewerken.


Das Interessante an Story of Leina war, wie markant die Schurken rüberkamen. Sie kamen in drei Geschmacksrichtungen, ein gewaltiger Mega-Konzern, der die Welt mit fossiler Energie im Würgegriff hielt, weil seine Führer sich alle gegenseitig in einem Teufelskreis erpressten. Dazu kam eine Mafia wider Willen, die mit dem Konzern in Verbindung stand. Beide hatten gegenseitig Dreck, den sie sich um die Ohren pfeffern konnten, und so konnten sie sich nicht in den Rücken fallen und halfen sich gegenseitig aus. Die Dritte Partei war eine Bürgerwehr, die aus Angst vor den anderen beiden agierte und Leinas Arbeit sabotierte. Sie fürchtete, den Strom abgeschaltet zu bekommen.

Leina mittlerweile ließ sich davon nicht unterkriegen und verfeinerte ihre Designs von Windrädern, Wasserkraftwerken, Solarzellen und anderen Dingen. Den Konzern brachte sie auf die Palme, als sie begann, synthetischen Kraftstoff herzustellen. Leina wurde belästigt, ihre Arbeit gestört.

Das spiegelte sich in der Realität wider, denn das Windrad befand sich schon wenige Tage, nachdem es erschienen war, im Abriss.

Aber drei andere hatten mittlerweile seinen Platz eingenommen. Hive bewunderte diese Art der Spiegelung und fragte sich, was wohl passieren würde, wenn das Spiel millionenfach verkauft worden wäre.

Aber es half nichts, auch die neuen Windräder würden in Kürze rückgebaut werden.


Leina wurde letztendlich aus ihrem Haus vertrieben. Man hing ihr ein Verbrechen an, das sie nicht begangen hatte, und so floh sie in den Untergrund. Keine Erfindungen wurden mehr geschaffen und die Windräder in der Realität hatten aufgehört, sich zu drehen. Das erste war bereits seiner Flügelblätter beraubt worden.

Im Untergrund, dort wo die Ausgestoßenen und Unerwünschten lebten, brachte Leina das Licht. Sie benutzte ihre Designs, um Strom zu erzeugen und damit Geräte zu betreiben, die zuvor nutzlos gewesen waren. Zum ersten Mal dankten die Leute Leina. Immer mehr saubere Energie konnte produziert werden und Leina entwickelte Maschinen, um die schlechte Luft und den Dreck im Untergrund zu beseitigen.

In der Realität befand sich im örtlichen Fluss plötzlich ein Wasserkraftwerk, das günstigen Strom anbot. Die Leute stürzten sich sofort darauf. Zumindest, bis die Stadt eine Klage wegen unangemeldeter Geschäfte meldete. Wogegen die Menschen der Stadt wiederum vorgingen. Denn wer wollte schon billigen Strom aufgeben und auf einen Tarif wechseln, der in Erwartung der Klage jetzt wesentlich teurer ausfiel?

Im Spiel begriffen mittlerweile die Ordnungskräfte, dass im Untergrund merkwürdige Dinge vor sich gingen, denn die Zahl der Vergehen der Untergrundbewohner war merklich zurückgegangen. Ermittler meldete schließlich Leinas Entwicklungen. Dies kam später auch zahlreichen Bewohnern der Stadt zu Ohren, die begannen, Strom vom Untergrund abzuzapfen und sich mit Leina auf Bezahlungen in Form von Nahrungsmitteln und anderer notwendiger Güter für den Untergrund einigten.

Die Mafia erfuhr später davon und dadurch der Konzern und man begann wieder, Leinas Maschinen zu zerstören. Doch dieses Mal zogen sie den Zorn der Untergrundbewohner auf sich, die sich auch in den Eingeweiden der Industrieinfrastruktur sehr gut auskannten und begannen, die Arbeit des Konzerns zu sabotieren.


Der örtliche Stromerzeuger der Stadt in China kam dieser Tage in Bedrängnis, denn der Preis der Kohle, mit der das Kraftwerk betrieben wurde, schoss in die Höhe, was auf die örtlichen Stromrechnungen umgewälzt wurde. Sogar einige hohe Beamte protestierten dagegen und gaben einen Eilantrag des Wasserkraftwerks statt, eine Genehmigung für seine Geschäfte zu erhalten. Das Gericht derweil einigte sich mit dem Betrieb auf eine hohe Geldstrafe, die das Kraftwerk aber leicht stemmen konnte, da nun plötzlich die Kunden zu ihm fluteten. Selbst als der Preis für Kohle wieder sank, wollte keiner, der gegangen war, wieder zurück.

Leinas Schwierigkeiten fanden ein Ende, als sich die Mafia nach einem Subplot gegen den Konzern wendete und die Bürgerwehr durch alternative Möglichkeiten des Stromkaufs auf ihre Seite gezogen wurde. In einem gewaltigen Finale wurde die Korruption des Konzerns aufgedeckt und seine Machenschaften mal mehr und mal weniger legal beendet. Leina konnte endlich wieder in ihr Haus zurück und wurde als größtes Genie das Jahrhunderts gefeiert, während sie selbst wieder das tat, was sie am meisten mochte, nämlich tüfteln.

Das Durchspielen hatte etwa zwei Monate gedauert. Nach diesen zwei Monaten stand nun das Kohlekraftwerk vor dem Aus und ein neuer Windpark wurde gebaut. Menschen hatten begonnen, gegen die giftigen Abgase der Industrie vorzugehen, nachdem sie gemerkt hatten, dass sich die Luftqualität nach dem Abschalten der Kohlekessel merklich verbessert hatte.

Und Hive verstand endlich. Menschen waren nicht von Haus aus dämlich, es brauchte nur etwas, das sie dazu brachte, das Richtige zu tun. Etwas das plante und inspirierte. So etwas wie ihn. Hive wusste nun, was er tun musste. Es galt nicht mehr nur zu überleben, es galt zu führen, auf das möglichst viele sorgenfrei leben konnten.


Etwa dreißig Jahre später brandete den Schöpfern aus allen Ecken des Hives mit seinen über 8000 Mitgliedern der Applaus entgegen, als der erste Fusionsreaktor des Kollektivs endlich ans Netz ging und die kleine Gemeinschaft irgendwo im Osten Europas mit Energie zu versorgen begann. Das bemerkte Hive zwar mit Stolz, eines seiner Hauptanliegen war aber ein anderes.

Es hatte ewig gedauert, Letters Entertainment zu infiltrieren, aber nun erhielt der Chinese, der einst Story of Leina gespielt hatte, endlich Einlass zum Büro des Storyboard-Direktors von Reality Rebuilder. Er hatte die alte Ausgabe von Story of Leina dabei und gab sich als Reporter einer kleinen Zeitung aus.

Der Autor der Geschichte von Story of Leina saß nun im Sitz des Direktors seiner Abteilung und empfing Hive mit einem Lächeln.

"Sie sind kein Reporter", begann er das Gespräch.

Hives Wirt erstarrte, noch während er sich setzte.

"Wie kommen Sie darauf?"

"Wir wissen, dass Herr Feng, der Sie angekündigt hat, mittlerweile ein Maulwurf ist. Wir haben Bekannte in sehr esoterischen Kreisen, das macht unsere Spiele zu dem, was sie sind", erklärte der Storyborad-Direktor. "Wollen Sie auch mich zur Marionette machen? Ich rate davon ab."

"Ich mache niemanden zur Marionette", protestierte Hive energisch. "Und Sie werde ich nicht zwingen, beizutreten. Ich möchte Sie nur etwas fragen."

Sein gegenüber zog die Augenbrauen hoch.

"Oh? Eine Frage von einem Wesen mit weit mehr mentaler Kapazität als jeder Mensch? Was ist das für eine Frage, auf die nur ich eine Antwort geben kann?"

Hive legte seine Ausgabe von Story of Leina auf den Tisch. Der Schöpfer nahm sie kurz in die Hände und betrachtete sie.

"Oh, eine meiner ersten Arbeiten. Da wird man glatt nostalgisch."

"Warum tut es, was es tut?", fragte Hive. "Dieses Spiel hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin."

Hive erhielt einen undeutbaren Blick.

"Warum?", wiederholte der Autor. "Ich war damals noch ziemlich jung. Ich sah den Schmutz und den Dreck und alles und überlegte, was ich dagegen tun könnte. Jeder verdient ein sauberes Zuhause. Mein erster Entwurf der Geschichte war ein ziemlicher Holzhammer, das sagte mir mein damaliger Chef auch. Also setzte ich mich wieder an den Tisch und überlegte, was ich tun könnte. Ich lieh mir in der örtlichen Bibliothek einige Bücher über menschliche Mentalität aus, um zu lernen, wie man Menschen inspiriert, anstatt ihnen einfach Dinge vorzugeben und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass Zeigen besser funktionierte als Erklären. Und so verändert das Spiel die Wirklichkeit nur in kleinem Maße, Stück für Stück, sodass es nicht großartig ausfällt. Für große Veränderungen reichte der Strom der Konsole eh nicht."

"Aber warum sind nur so wenige Kopien des Spiels auf dem Markt?", fragte Hive.

"Jede Ausgabe des Spiels ist ein Einzelstück, daher lieferten wir nur auf Bestellung. Das war notwendig, damit die Magie, die in den Code gewoben worden war, ordentlich funktionierte. Wir geben uns hier nicht mit Billigware zufrieden. Ertrag hat uns das Spiel kaum gebracht, aber das war uns damals egal. Unser Name wurde bekannt und wir hatten Spaß an der Entwicklung."

"Haben Sie jemals an einen Nachfolger gedacht?", fragte Hive.

"Nachfolger? Hm", machte der Schöpfer mit leisem Lächeln. "Wozu? Der Nachfolger wird doch bereits Realität, oder etwa nicht?"

Hive lachte. Es würde nicht heute oder morgen passieren, aber er war sicher, dass er den zweiten Teil von Story of Leina würde schaffen können. Menschen waren nicht von Natur aus selbstzerstörerisch. Sie taten das Richtige, wenn man sie ließ.

Und es war nur ein Videospiel notwendig gewesen, damit er das verstand.

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