Die kleinen Mädchen und die Schwefelhölzer

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Wie so oft in den vergangenen Wochen, wenn er nicht mit irgendetwas beschäftigt war, das ihn vollständig in Anspruch nahm, kreisten Viktors Gedanken um Emilia. Er fragte, sich, ob er sie jemals wiedersehen würde; seit seiner Versetzung hatte er sie nicht mehr erreichen können. In besonders schlimmen Augenblicken fragte er sich, ob sie überhaupt noch am Leben war, schließlich waren Tätigkeiten in der Foundation nicht gerade der sicherste Arbeitsplatz der Welt. Er sah durch die Windschutzscheibe nach draußen, der leichte Schneefall hatte wieder eingesetzt, die Zweige der Tannen, die die gewundene Gebirgsstraße säumten, wurden von den weißen Polstern niedergedrückt.

Alice lenkte den Transporter gerade routiniert durch eine weitere Serpentine. Wo blieb denn nun dieses Dorf? Johnny war wie immer die Ruhe selbst, seit mindestens einer Stunde las er konzentriert in irgendeinem Buch. Viktor rutschte unruhig auf der seitlich angebrachten Bank herum. Er musste sich ablenken, die ewige Grübelei zermürbte ihn. Er hob seine Tasche auf seinen Schoß und zog den Reißverschluss auf. Und stutzte. In der Tasche befand sich ein recht großes Weihnachtsgeschenk, blaues Papier, auf dem sich Schneeflocken und Glöckchen abwechselten. Viktor runzelte die Stirn. Er erinnerte sich vage, das Paket eingepackt zu haben, aber warum? Und für wen? Vielleicht war es jetzt soweit und er verlor den Verstand. Seitlich neben dem Geschenk steckte ein zusammengefaltetes Stück Papier. Er nahm es zur Hand, klappte es auf und erkannte sofort seine eigene Handschrift. Er las:

Zähl die Leute im Wagen. Wenn es mit dir drei sind, gibt es gleich eine Überraschung. Falls dem so ist, dann machst du jetzt Folgendes: Du sagst laut: "Drück auf den Knopf!", wenn nichts passiert, gleich nochmal. Nein, du bist nicht verrückt. Vertrau dir selbst und mach es.

Was zum Teufel sollte das? Jetzt wusste er wieder, dass er sich selbst diese Nachricht hinterlassen hatte, aber der Grund blieb ihm völlig schleierhaft. Andererseits klang das Ganze ziemlich nachdrücklich und nicht wie das Geschreibsel eines phasenweise Irren. Und was gab es zu verlieren, außer, dass er wie ein Trottel rüberkommen konnte?

"Drück auf den Knopf!", sagte er fest.

Johnny sah von seinem Buch auf. Einen Moment trafen sich Alice und Viktors Blicke im Rückspiegel, sie hob die Augenbrauen.

"Wie bitte? Welchen Knopf?", wollte Johnny wissen und in Viktors Kopf sagte er wie ein Echo seiner eigenen Frage: Knopf?

Viktor ignorierte ihn und versuchte festzustellen, ob sich irgendetwas veränderte. Nichts.

"Drück… auf… den… Knopf!", wiederholte er.

Mathilda materialisierte sich ihm gegenüber unter glockenhellem Gelächter, die linke Hand auf dem runden Metallgebilde an ihrem rechten Oberarm. Gleichzeitig kamen bei Viktor sämtliche Erinnerungen an das Mädchen zurück, nicht portionsweise, wie er sich manchmal morgens an Dinge erinnerte, sondern schlagartig in voller Gänze. Er schüttelte in gespieltem Tadel den Kopf.

"Nicht in Ordnung, Mati!", bemerkte Alice aus dem vorderen Teil des Wagens.

Viktor wunderte sich oft, wie aus diesem Kind (mittlerweile zumindest ihnen gegenüber) eine fröhliche, abgesehen von ihrer anomalen Veranlagung, normale, freundliche Zehnjährige hatte werden können. Er hatte Mitleid mit ihr, sie stellte ein starkes Stück von Foundationarbeit dar, Arbeit der verantwortungslosen Sorte. Soweit er wusste, war Mathilda das unbeabsichtigte Ergebnis von Versuchen mit ihrer schwangeren Mutter und irgendeiner antimemetischen Entität. Und ihr Name…
Viktor konnte sich nur zu gut vorstellen, dass ein Witzbold von Forscher ihn nach einem Film ausgewählt hatte. Sein Blick wanderte zu dem Gerät an ihrem Arm. Stahlgrau, von der Größe einer Puderdose, fingerdicke Kabel (Schläuche?) verloren sich unter ihrer Kleidung. Jedes Oberteil, dass er jemals an ihr gesehen hatte, besaß eine Ausstanzung, durch die das Gerät passte, deshalb vermutete Viktor, dass der verdammte Anker implantiert worden war. Armes Ding. Er war sich sicher, dass sie die beste Bildung und dergleichen bekommen hatte, aber selbst er, der absolut keine Erfahrung mit Kindern hatte, war sich darüber im Klaren, dass das nicht ausreichen konnte. Umso froher war er, dass sie in den letzten Wochen richtiggehend aufgeblüht war, von der hölzern-höflichen Miniversion einer Erwachsenen zu einem frechen, kleinen Wildfang. Was die Foundation aus ihr versuchen würde zu machen, wollte er sich nicht vorstellen.

"Hab dir Grimassen geschnitten, so nahe vor deinem Gesicht. Weil du so mürrisch ausgesehen hast!", sagte sie mit einem herausfordernden Gesichtsausdruck.

"Sehr ungezogen. Und weißt du, was unartige Kinder nicht kriegen?"

"Heute Abend den Kantinenfraß?", antwortete sie grinsend.

"Sowas hier." Viktor zog das Weihnachtsgeschenk aus seiner Tasche und reichte es dem Mädchen.

"Frohe Weihnachten, Mati."

Mathilda kiekste hocherfreut und begann umgehend und ziemlich rabiat, das Papier zu Fetzen zu zerreißen. Ich will nicht wissen, wie oft du Weihnachtsgeschenke bekommen hast, dachte Viktor.

"Und trotzdem ein liebes Mädchen, was, Viktor?", fragte Johnny.

"Raus aus meinem Kopf, Kumpel."

"War nicht drin. Aber du hast deine Mimik überhaupt nicht unter Kontrolle."

"Konsole! Danke!", freute sich Mathilda überschwenglich und quiekte dabei noch ein wenig mehr.

Johnny griff nun seinerseits in seine Tasche und holte ein weiteres Päckchen hervor, diesmal in rot und wie Viktor bemerkte, sorgfältiger eingepackt.

"Von Alice und mir. Frohe Weihnachten, Kleine", sagte er und Alice stimmte ein.

Bei ihrem Geschenk handelte es sich um einige passende Spiele für die Konsole. Viktor legte den Kopf schief, um sehen zu können, um was es sich genau handelte.

"Na, Prost Mahlzeit, wenn sie das durch hat, wird sie später bei der Waffenausbildung schon besser sein als ihre Lehrer."

Mathilda lachte hell auf und sagte zu Johnny gewandt:

"Ja, stimmt, wie ein grummeliger alter Opa!"

Viktor bemühte sich um einen entrüstet-beleidigten Gesichtsausdruck.

"Jetzt sagt euch der Opa mal was: Wer flüstert, der lügt. Das hat mein Opa immer gesagt. Und das ist eine ganz unverschämte Form des Flüsterns!"

"Hört mal her, da vorne kommt der Perimeter. Seid mal kurz leise, der Posten soll nicht denken, dass wir hier eine Party feiern", sagte Alice.

Über die Strasse war kurzerhand ein rot-weiß gestreifter Schlagbaum gelegt worden, zwei Männer in Uniform wärmten sich unter einem Gasheizpilz, dahinter befand sich eine Art Pavillon. Einer der beiden erhob sich von einer provisorischen Bank, die aus einem abgesägten Baumstamm bestand. Er trat zu Alice an das Fenster und ließ sich ihre Papiere zeigen.

"In Ordnung, ich muss trotzdem kurz einen Blick hineinwerfen, Vorschrift", sagte er und Viktor merkte genau, dass der Mann eigentlich lieber gleich wieder in die relative Gemütlichkeit unter dem Heizschirm zurückgekehrt wäre. Ein Schwall kalter Luft strömte unangenehm in den Transporter, als die Tür geöffnet wurde.

"Meine Herren", grüßte der Wachposten und setzte hinzu: "Sie haben ein Kind dabei?!"

"Ein Kind? Was für ein Kind? Kochen Sie sich da in ihrem Zelt etwa Glühwein, oder Stärkeres?", gab Alice nach einem Moment ehrlich erstaunt zurück. Johnny und Viktor blickten sich verständnislos an.
Auch der Uniformierte wirkte verwirrt, überspielte es aber, indem er seinem Kollegen zurief, er möge den Schlagbaum heben. Was Verwirrung anging… woher kam die Spielkonsole nochmal und die Papierfetzen? Viktor rätselte, bis Mathilda nach etwa fünfzig Metern wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte.

Der Schaden, den das winzige Dörfchen genommen hatte, war sofort ersichtlich, als die Reste der ersten Häuser hinter einer letzten Kurve auftauchten. Es war ein befremdlicher Kontrast: Der blütenweiße Neuschnee auf den schwarz verkohlten Balkenresten und den von Rauch und Flammen gedunkelten Stein- und Betonbrocken. Von dem Feuer war nur die Dorfkirche verschont geblieben, eigentlich nicht mehr als eine Kapelle, aber vollständig aus Stein erbaut und im Gegensatz zu den anderen Häusern relativ isoliert in der Mitte eines winzigen Marktplatzes stehend. Es hatte sich im Ganzen um vierzehn Häuser gehandelt, eines davon schien ein Laden gewesen zu sein. Stahlregale ragten aus den Trümmern wie Zahnruinen aus einem zerstörten Mund, doch selbst sie hatten sich in der Hitze verzogen.
Die Ortschaft war regelrecht ausradiert worden, wobei nicht klar war, ob der Brand bei den aneinandergeschmiegten, uralten Bauwerken einfach rasend schnell übergesprungen war. Oder ob etwas anderes geschehen war. Genug Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten gab es auf jeden Fall.

"Es hat gebrannt, aber das passiert doch manchmal? Darf ich wissen, was wir hier suchen? Es muss dann doch etwas faul an der Sache sein?", fragte Mathilda.

Und genau deswegen hat eine Zehnjährige hier nichts verloren, dachte Viktor. Wie sollte man ihr die Situation erklären, ohne auf einige grausame Details zu sprechen zu kommen? Oder war sie dafür alt genug? Inwieweit war sie durch ein Leben innerhalb der Foundation möglicherweise schon abgehärtet? Er beschloss, ehrlich zu ihr zu sein, als Johnny das Wort ergriff.

"Du musst wissen, dass bei dem Feuer leider Menschen gestorben sind, Mati."

Das Mädchen nickte ernst.

"In Ordnung. Du siehst ja selbst, wie die Häuser aussehen. Normalerweise müssten die Leute genauso verbrannt sein wie ihr Zuhause. Aber so sahen sie nicht aus. Sogar ihre Kleidung war vollkommen zu Asche zerfallen, aber die Körper nicht. Das ist das komische an der Sache."

Viktor, der noch die Fotografien vor Augen hatte, schauderte. Ein bisschen verkokelt waren die Leichen schon gewesen. Aber im Großen und Ganzen stimmte die Darstellung natürlich. Er sagte:

"Auf jeden Fall brauchst du keine Angst zu haben. Es gibt nichts Schlimmes mehr zu sehen, es ist alles bereits mehrmals abgesucht worden."

"Hat man denn die Anomalie gefunden? Und warum machst du das dann nicht alleine, in die Vergangenheit schauen meine ich? Mit Johnny zur Unterstützung? Oder Alice? Aber was mache ich hier? Ich soll was von euch lernen, stimmt's?", plapperte Mati.

Hoppla, kleiner Schlaufuchs. Natürlich wollen die oberen Zehntausend, dass du möglichst früh möglichst viel von diesem Zeug lernst, dachte Viktor.

"Ich nehme es an, ja. Nein, keine Anomalie im Käscher. Es gibt allerdings auch Dinge, die treten einmal auf, dann nie wieder. Aber sag mal, bist du denn nicht gern mit uns unterwegs?", wollte er wissen, was ihm statt einer Antwort ein trotziges Geräusch einbrachte.

Alice parkte den Wagen neben der kleinen Kirche, sie stiegen aus und die Erwachsenen kontrollierten ihre Dienstwaffen. Es roch immer noch unverkennbar verbrannt, nur öliger und irgendwie bitterer, als ob der Schneefall die schlechten Gerüche zu Boden drückte und ihr Verwehen verhinderte. Alice ging neben Mati in die Hocke.

"Mati, wenn irgendetwas Ungewöhnliches passiert, oder einer von uns es sagt, drückst du augenblicklich auf deinen Knopf, ja? Das ist wichtig. Es wird nichts passieren, keine Sorge, aber falls doch etwas schiefgeht, gehst du zum Auto zurück und forderst Verstärkung an. Du weißt wie das geht. Versprichst du mir das?"

"Ja, Alice, versprochen."

Sie machten sich auf den Weg zur ersten Ruine und Viktor machte sofort zwei Abbilder von Toten aus.

Hast du was?, sendete Johnny.

Ja, warte, auf jeden Fall sind hier Leute ermordet worden, Moment… schickte Viktor zurück und versuchte, ein Bild von dem, was er sah, wie einen Anhang mitzuschicken. Er hatte keine Ahnung, ob das funktionierte.

"Wow, das ist heftig. Läuft eine Treppe runter, die es gar nicht mehr gibt", sagte Johnny erstaunt.

"So sieht das Zeug also aus", stellte Alice fest und Mathilda hauchte: "Echte Geister, toll."

"Du wirst echt besser. Mit Weiterleitung zu den Anderen? Nicht schlecht. Also, ich beschreibe euch mal die Situation auf normalem Wege. Da waren zwei Leute drin. Eine Frau, hat in einem der hinteren Zimmer geschlafen, wenn ich das richtig interpretiere. Sie erwacht und setzt sich auf. Ein älterer Mann kommt von oben die Treppe herunter und geht bis zur Haustür. Er macht auf."

Viktor stand genau auf der ehemaligen Türschwelle und blickte der grauen Gestalt direkt ins Gesicht. Er war so nahe, dass er sogar die großen Poren auf der Nase des Alten erkennen konnte. Der Mann schien auf Viktors Brust zu starren.

"Er wirkt ziemlich überrascht, wenn nicht sogar bestürzt. Jetzt bittet er offenbar jemanden herein, die Frau ist auch dazugekommen. Sie scheint nach einem Telefon zu greifen. Ja, sie wählt eine Nummer, eindeutig. Eine kurze Nummer. Es geht los. Die beiden reißen die Arme hoch… Abwehrhaltung, aber sie fliehen nicht. Ihre Bewegungen werden immer langsamer. Die Kleidung fliegt in Fetzen um sie herum. Sind erstarrt, wie versteinert und… weg, tot, alle beide. In Anbetracht der Umstände wurden sie…"

"Auf Eis gelegt, schon klar, wir brauchen mehr Information, Viktor. Gehen wir weiter!" Alice schob Mathilda hinter sich und ging entschlossenen Schrittes weiter auf die anderen Häuser zu.

Das Zusammenspiel der auf beiden Seiten aufragenden Berge und dem sich bietenden Schauspiel brutaler, willentlich herbeigeführter Zerstörung erzeugte Beklemmung in Viktors Brust. Wie ein Kriegsgebiet im Kaukasus, oder Afghanistan, dachte er. Zu sehen gab es für ihn stets nur nur verwirrte, manchmal sogar anfangs belustigte Mienen, die kurz vor ihrem Ableben etwas sehr Beängstigendes gesehen hatte. Du siehst nicht alle, sei froh, rief er sich ins Gedächtnis. Er gab es auf, jeden Toten zu annoncieren, bis ihm, am Ende des Dorfes, ein interessanteres Phantom auffiel. Sie hatten einen Halbkreis beschrieben und standen vor einer Abzweigung, der einzigen, die, abgesehen von der Hauptstraße aus dem Dorf führte. Eine junge Frau, die schreiend flüchtete. Sie schien zu springen, doch in der Luft wurden ihre Arme kraftlos, Viktor sah zu, wie sie auf den Boden krachte, ohne sich abstützen zu können. Einige Sekunden, bevor sie starb, brach etwas den linken Arm der Frau. Jemand zertrat den Arm auf seinem Weg zu Splittern, bevor sich das Bild vor Viktors Augen auflöste.

"Da lang, fürchte ich." Er wies in die Richtung, aus der die bemitleidenswerte Frau gekommen war.

Johnny und Alice nickten ansatzweise. Es musste sich um den Aussiedlerhof, etwa 600 Meter von dem Dorf entfernt handeln. Ebenfalls bis auf die Grundmauern herunter gebrannt, vier Tote, 23 tote Tiere. Soweit jedenfalls die Informationen von Oben.

"Nehmen wir den Wagen oder gehen wir zu Fuß?", fragte Johnny.

Sie entschieden sich für den längeren, aber wärmenden Fußmarsch. Viktor forderte Mathilda angesichts des hohen Schnees scherzhaft auf, doch einfach hinter ihm in seine Spuren zu treten, aber sie marschierte stur, wenn nicht sturer als ihre Begleiter voran. Der Ausblick war malerisch schön, wenn man das linke Augenlid schloss und den Anblick des zerstörten Dorfes ausklammerte. Einer der spärlich gesäten Gründe, für die Foundation zu arbeiten war es, auch einmal eine schöne Landschaft genießen zu können, dachte Viktor. Dann dachte er wieder an Emilia. Dann an Mathilda und ihr Lachen beim Auspacken der Geschenke. Innerlich zuckte er die Schultern. Möglicherweise gab es noch mehr Gründe, aber ihm wollte keiner mehr einfallen. Zu viele schreckliche Erlebnisse trübten selbst gute Erinnerungen. Der Hof kam in Sicht. Neben dem zerstörten Haupthaus war ein angelagerter, ebenfalls niedergebrannter Nebenbau zu sehen, rechts davor offenbar ein Hundezwinger, der den Angriff, denn anders konnte man es nicht mehr nennen, überstanden hatte. Ebenfalls intakt waren die hölzernen Stämme, die altmodisch die Stromleitung zum Hof geführt hatten. Zwei Raben hockten auf den Spitzen und beäugten interessiert die Gruppe. Das gesamte Gelände umlief ein brusthoher Zaun aus grob gezimmerten Planken, von denen weiße Farbe abblätterte.

"Pleitegeier", stellte Johnny fest.

"Sind sehr intelligent!", sagten Alice und Viktor wie aus einem Mund.

Sie erreichten den Zwinger und zu spät, um Mathilda noch abzulenken, erblickte er, was sich darin befand. Hinter unfachmännisch zusammengenagelten Brettern und starkem Drahtgeflecht lagen zwei verendete, große Mischlingshunde. Sie waren nicht verbrannt, eher verhungert oder auch erfroren. Foundationeffizienz, das, was nötig war, wurde erledigt, mehr nicht. Man hatte die Tiere einfach sich selbst überlassen.

"Die armen Hunde!", rief das Mädchen bestürzt. "Kinder sind die besten Richter." Wer hatte das nochmal gesagt, überlegte Viktor.

"Schau nicht hin, schau nach vorne, Mati."

Trotzdem warf das Mädchen auf dem Weg zum Hauptgebäude immer wieder einen traurigen Blick über die Schulter. Bereits auf dem Weg hatte es begonnen, dunkel zu werden, die weiter entfernten Bäume auf den umliegenden Berghängen verschmolzen langsam zu einer homogenen, diffusen Masse. Es war an der Zeit sich zu beeilen, nur noch diesen Hof zu überprüfen und dann zum Wagen zurückzukehren. Der Türsturz des Hauptgebäudes hatte beiderseits beim Einsturz die anliegenden Mauern mit sich gezogen, sodass Viktor erst einmal den eingeschneiten Schutthaufen überwinden musste. Dahinter empfing ihn ein weiteres Drama: Im hinteren Teil des Hauses saßen, wohl um einen Küchentisch versammelt, zwei Männer und, besonders schrecklich, zwei halbwüchsige Kinder, ein Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren, sowie ein Junge, der ihr kleiner Bruder sein musste. Ihre geisterhaften Abbilder ragten mit unbeteiligten Gesichtsausdrücken aus den verbliebenen Trümmern ihrer zerstörten Existenz. Letztes Abendmahl, dachte Viktor zynisch. Einer der vierschrötigen Männer erhob sich und bewegte sich zur Wand. Er schien aus einem jetzt nicht mehr vorhandenen Fenster zu blicken, um dann reichlich verwirrt den Raum zu durchqueren. Neugierige Blicke seiner Angehörigen folgten ihm. Sekunden darauf öffnete er die unsichtbare Hintertür wie ein äußerst begabter Pantomime. Von da an ging es schnell, niemand der Anwesenden entkam, was auch immer sie tötete. Viktor versenkte gewohnheitsmäßig seine bei dem Anblick aufkommenden Gefühle irgendwo in sich selbst und übermittelte Johnny die entsprechenden Bilder, zusammen mit der stummen Aufforderung, sie Mathilda zu ersparen.

Keine Sorge

"In Ordnung Leute, das dürfte es dann gewesen sein. Verschwinden wir", ordnete Alice an.

Zwielicht herrschte nun bereits auf dem Vorhof, in wenigen Minuten würden sie ihre Lampen einschalten müssen. Sie beschleunigten ihre Schritte und marschierten in ihrer eigenen Spur auf die abfallende Straße zu, die hinunter in das Dorf führte. Dann geschah etwas Absurdes, ja geradezu Bizarres. Hinter dem Zwinger, wo kurz zuvor niemand gewesen war, trat jemand hervor. Es war ein Mädchen, das nicht viel älter als Mathilda sein konnte. Gekleidet in zerfetzte, uralt wirkende Lumpen, besaß das Kind nicht einmal Schuhe. Die kleinen Füße waren blaugefroren, die abgemagerten, entblößten Arme ebenso. Eine bläuliche, im schwindenden Licht aber dunkler wirkende Schürze, die ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen hatte, vollendete das unwahrscheinliche Bild. Bei Viktor schrillten sämtliche Alarmglocken und prompt hörte er in seinem Kopf:

Kein Mensch! Das ist kein Mensch!

Johnny war schlagartig blass geworden als sei ihm übel; Alice' Waffe ruckte mit der routinierten Erfahrung eines langjährigen Agenten hoch.

"Sofort stehenbleiben!"

In dem Verstand dreht sich alles in Wirbeln!

Sogar Johnnys telepathische Version seiner Stimme klang, als müsse er sich jeden Moment übergeben. Und das vermeintliche Mädchen blieb stehen. Sie sah unbeschreiblich traurig und gequält drein. Das Kind öffnete den Mund und wandte das Wort an Viktor:

"Eine milde Gabe, mein guter Herr? Um Christi willen? Es soll Euer Schaden nicht sein, verkaufe ich doch Schwefelhölzchen."

In der kindlichen Stimme schwang etwas wie das elektrische Summen eines stark geladenen Gerätes mit, das nur darauf wartete, jemandem den Schlag seines Lebens zu verpassen. Viktor überlegte fieberhaft. Er musste Zeit gewinnen.

"Du kommst aus dem Norden, richtig?", fragte Johnny, seine Stimme klang wieder normal, wahrscheinlich hatte er sich aus dem wohl nicht-menschlichen Bewusstsein zurückgezogen. Das merkwürdige Mädchen antwortete, ohne Viktor aus den Augen zu lassen.

"Einen weiten, weiten Weg durch Wind und Winter wanderte ich, Herr."

"Langsam zurückweichen, Agenten", befahl Alice.

"Du leidest", fuhr Johnny fort, einen Schritt nach hinten tretend, "du leidest sehr in der Kälte."

Bei Viktor fiel der Groschen. Erfrierungen. Die Streichhölzer. Unmöglich, gibt es nicht, aber derartige Gedanken sind mir fremd geworden, dachte er und hätte ob der Absurdität gelacht, wäre der Hintergrund nicht derartig ernst gewesen. Johnny spielte auf Zeit, gut so. Auch er bewegte sich nach hinten und zur Seite.

"Edler, an der Kälte leidend, gewiss. Die Herzenskälte der Menschen ist es. Zwischen der Zeit, dem Licht der Geburt des Herrn und dem Fest des heiligen Silvester."

Das Summen im Unterton oder eher im Hintergrund der dünnen Mädchenstimme hatte sich gesteigert. Viktor dachte an ein prall gefülltes Wespennest von der Größe eines Wohnzimmers, an das jemand aufmunternd mit einem Besen schlug.

"Wir finden sicher einen Weg, dich aufzuwärmen", bemühte sich Viktor unter dunklen Vorahnungen.

"Der Weg zur Gnade, hoher Herr. Den Armen ein Almosen, Brosamen von eurem Tische!", bat das Wesen in der Gestalt eines erfrierenden Kindes flehentlich.

"Natürlich, Sekunde", presste er hervor, während er in den Taschen seines Mantels herumsuchte und tatsächlich eine handvoll Kleingeld hervorkramte, das sich dort über längere Zeit gesammelt hatte. Ein Hoch auf die Schlampigkeit, dachte er. Die Münzen landeten im Schnee vor den Füßen des Wesens und hinterließen kreisrunde Löcher. Mit einer fließenden Bewegung griff das anomale Kind in seine Schürze und zog ein Streichholz hervor, so groß wie ein Fidibus.

"Kein Goldstück, edler Herr? Ich friere so." Und gleichzeitig brüllte sie mit einer Stimme, die vibrierend und laut wie ein Helikopter war:

"FRIERT IN DER VERDAMMTEN HÖLLE! EURE KÄLTE WÄRMT MICH!"

Das überdimensionierte Streichholz flammte auf und brannte so hell, als bestünde es aus Magnesium.
Ein Stoß aus reiner, kristalliner, tödlicher Kälte erfasste Viktor. Das reicht nicht, dachte er, dass ist keine Kälte, das ist der Tod, oh Scheiße. Es war wie der schlimmste Blizzard der Welt, ganz ohne den leisesten Windhauch. Er fror auch nicht, sondern erfuhr einen furchtbaren Schmerz, als ob jede Stelle seines Körpers gleichzeitig mit einem Baseballschläger und einem Messer bearbeitet würde. Ein Gefühl, als würden die Augäpfel gefrieren stellte sich ein. Gleichzeitig begannen die Bretter des Zwingers und des Zaunes erst schwarz zu werden, um dann Feuer zu fangen. Um die Füsse der Kreatur herum verschwand der Schnee blitzartig, verdampfte, so dass der Eindruck entstand, Nebel sei aufgezogen. Entsetzt sah Viktor, wie dort der Asphalt weich wurde und dann Blasen zu werfen begann. Der Gestank verteilte sich in der Luft. Das brennende Holz tauchte die Szene in das gespenstische Licht eines Hexensabbats. Alice' Waffe fiel zu Boden, die Spitze des Laufs glühte.
Wir leben nur noch, weil unsere Körper die Kleidung kühlen, Albtraum, fuhr es ihm durch den Kopf.
Mit fürchterlich steifen Gliedern griff Viktor unter gewaltigen Anstrengungen nach seiner Halskette.
Er riss sie kurzerhand ab. In seinen beinahe starren Fingern erwärmte sich das Udjat rasend schnell. Er warf es und es versank zu Füssen der Kreatur halb im geschmolzenen Untergrund. In der Hitze, dass sie umgab wehte ihr verfilztes, ungepflegtes Haar wild umher. Es grenzte an ein Wunder, dass der Asphalt noch nicht brannte. Das Wort, dass Viktor hervorbrachte, klang genauso eingefroren, wie sich sein Körper anfühlte, kollerte wie Eiswürfel aus seinem Mund:

"G…Gold."

Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen verzog das Gesicht zu einem diabolischen, hasserfüllten Grinsen, das gleißende Licht in ihrer Hand verlosch. Die Kälte verschwand und die plötzliche Hitze der Umgebung erzeugte einen Schmerz, der noch größer als der vorherige erschien, falls das möglich war.

"Habt Dank und Gottes Segen! / DU DRECKIGE SAU!"

Viktors Zähne klapperten, doch nicht wegen der Kälte in seinem Körper, sondern sie erzitterten in der donnernden Lautstärke. Er sah, wie sich Alice mühsam nach ihrer Waffe bückte. Das Ding wandte sich den beiden anderen Agenten zu.

"Darf ich Euch ebenfalls um eine Spende bitten, meine edle Dame, mein hoher Herr? / NA, HASTE WAS FÜR MICH, DU SCHÖNHEIT VOM LANDE? DU WIEDERGEBORENE? ODER DU, HIRNWÜHLER?"

Man konnte abermals der Bewegung kaum mit dem bloßen Auge folgen, schon zog das Mädchen mit den Schwefelhölzchen ein neues hervor, triumphierend, mordlüstern. Nein, dachte Viktor, nicht nochmal, das überleben wir auf keinen Fall. Er war nicht entsetzt, er hatte keine Angst, er war verblüfft. Oder hatte ihn der Frost in seinen Knochen schon so lethargisch werden lassen?

Und dann war es vorbei, plötzlich, schlagartig. Mathilda tauchte neben der Kreatur auf und wollte ihr offenbar die Streichhölzer aus den Händen schlagen. Aber als sie erschien, verschwand die Anomalie spurlos, riss ein Loch in die Luft, das sich unter einem dumpfen Geräusch mit Rauch und Dampf füllte.
Mathildas Schwung ging ins Leere und zwang sie zu einem Ausfallschritt.

"Ich hatte sie doch?", rief Mathilda verblüfft.

Die Agenten brauchten beinahe eine Minute, um sich wieder halbwegs zu sammeln und sich wieder, wenn auch unter Schmerzen, bewegen zu können. Es war ein Gefühl, als strahle der Frost tatsächlich aus dem innersten Mark ihrer Knochen nach außen.

Matis Körperfeld… das Scrantonfeld!

"Hat… die Eiskönigin… aus der Realität geblasen. Oh Gott, das… war ein knappes Ding", brachte Alice hervor, hingebungsvoll in die Hände hauchend.

Viktor ging mühselig einige Schritte nach vorne und zog vorsichtigst das Horusauge aus der weichen Schlacke. Erleichtert sah er, dass es bis auf den Asphalt, der daran klebte, nicht gelitten hatte.

"Komm da raus, Mati, sonst müssen wir deine hübschen Stiefelchen noch hier lassen.", quetschte
er heraus, zu dem Mädchen aufsehend.

Die Wärme in der Luft verschwand beinahe ebenso schnell wie sie beschworen worden war. Viktor schleppte sich zu dem brennenden Zaun und trat, den Schmerz ignorierend die Planken auseinander und schob dann einige mit dem Stiefel zu einem Haufen zusammen. Sie sammelten sich um das improvisierte Lagerfeuer. Es dauerte noch mindestens zehn Minuten, bis sie sich wiederhergestellt genug fühlten, ein normales Gespräch zu führen. Nur Mathilda schien völlig unbeeindruckt und schürte während der ganzen Zeit das Feuer.

"Frierst du denn gar nicht?", wollte Viktor wissen.

"Drüben gibt es kein warm oder kalt… und sie, ich meine, die Anomalie konnte mich nicht sehen, ich war viel tiefer. Was mich nicht sieht, kann mir nichts tun."

"Du hast uns wohl gerade den Arsch gerettet."

"Aha, Ballerspiele böse, schlimme Worte sind okay?", lachte Johnny erleichtert.

"Hör zu, du musst noch etwas erledigen, Mati", sagte Alice und wirkte besorgt.

Oh, nicht gut, dachte Viktor. Laut sagte er:

"Spring kurz und ich meine: Nur ganz kurz nach drüben, wie du das nennst. Du musst nachsehen, ob das Skip jetzt dort ist."

Bevor er weitere Warnungen aussprechen konnte, hatte das Kind seinen Anker berührt, schaltete ihn ab und verschwand, Erinnerungslücken hinterlassend. Doch bevor Verwirrung einsetzen konnte, kehrte sie zurück.

"Es ist weg. Vielleicht hab ich es umgebracht?"

"Wahrscheinlich hat es nie richtig gelebt. Aber du hast nicht auf mich gehört, Kleines. Darüber müssen wir noch reden. Aber ich glaube, das vergessen wir besser im Bericht. Wer schreibt den übrigens?", meinte Alice.

Johnny und Viktor stöhnten auf.

"… Morgen. Heute feiern wir. Es ist Weihnachten", fügte sie mit einem schwer zu deutenden Blick auf die Hundekadaver in der Nähe hinzu.

"Können wir die Spiele ausprobieren?", wollte Mathilda wissen und setzte eine hoffnungsvolle Miene auf. "Bitte!"

"Nein, so feiert man nicht Weihnachten. Wir zeigen dir, wie man das macht. Du sollst ja schließlich etwas lernen. Abmarsch, Jungs."

Dann umarmte Alice das Mädchen, nahm sie bei der Hand und ging mit ihr voraus in Richtung des Dorfes. Johnny und Viktor sahen sich kurz an.

"Direkt märchenhaft, was?", meinte Johnny und dann trotteten sie grinsend hinter den anderen her.

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