Der Mann mit dem Flanierstock
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Saskia Schmied zurrte mit der rechten Hand die Gurte an ihrer Körperrüstung fest, während sie mit der Linken einen schmiedeeisernen Speer in die aufklappbare Halterung auf ihrem Rücken steckte.
Hassan Marek hing seinen Erste-Hilfe-Koffer an die Halterung an seinem Gürtel, ehe er Zwei Plastikdosen mit Silberpulver in seinen Rucksack steckte.
Irene Falk legte ihre Schulterhalfter samt der zwei Pistolen an, während sie mit einer sanften Sehnsucht das Scharfschützengewehr in ihrem Spind beäugte, ehe sie auch einen mit Brandgranaten bestückten Gürtel anlegte.
Siegmund Klaussen träufelte Weihwasser über mehrere Sturmgewehr-Magazine, während er leise Gebete flüsterte.
Markus Kessel stand daneben, beinahe bereit zum Ausrücken, während er darauf wartete, dass Siggi seine Magazine fertig gesegnet hatte. Er ließ seinen Blick über sein Team schweifen … und erblickte Ambroszky Stamek, der in der Ecke stand, die Tasche, die an seiner Schulter hing, umklammerte, und die anderen unsicher bebobachtete.
"Ambrosz!", rief Kessel, "Für den Einsatz bereit machen! Jetzt!"
Ambrosz fuhr sich unsicher mit seiner Hand übers Kinn. "Oberst - ich meine, Kessel … ich bin bereit."
Kessel ging mit großen Schritten auf den Neuling zu und flüsterte: "Wo ist deine Waffe?"
"Keine Waffenausbildung."
Kessel prallte wie vom Schlag getroffen zurück, ehe er sich fasste.
"Nahkampfausbildung?"
Ambrosz schüttelte den Kopf.
"Irgendeine Art von Kampffähigkeiten?"
Ambrosz biss sich verunsichert auf die Lippe, ehe er antwortete: "Nein."
Kessel wandte sich ab, er musste sich abwenden, um seine Gedanken zu ordnen und nicht einen der Gewaltausbrüche zu bekommen, die seine Militärkarriere … erschwert hatten.
Schließlich legte er einen Finger an das Funkgerät in seinem Ohr und sagte: "Hand. Sind Sie da?"
"Immer, Faust-1", erklang die Stimme des Missionsbetreuers.
"Warum zur Hölle geben Sie mir einen Mann ohne jegliche Kampferfahrung oder -ausbildung als stellvertretenden Teamführer?", flüsterte Kessel aufgebracht.
"Er verfügt über theoretisches Wissen, welches -"
"Uns einen Scheiß bringt, wenn wir mit Feuerbällen bombardiert werden!", rief Kessel lauter als beabsichtigt. Die Blicke des Teams wandten sich dem Teamleiter zu.
Er schüttelte den Kopf und fuhr fort: "Wir lassen Ambrosz hier. Nach diesem Einsatz kümmern wir uns um ein Trainingsprogramm und eine Waffenausbildung, wie damals bei Saskia."
"Nein." Der Ton in Hands Stimme ließ keinen Raum für Diskussionen. "Wir wissen nicht, gegen was Sie hier antreten werden. Wenn es sich um eine … 'dämonische' Kreatur handelt, könnte Ambrosz' theoretisches Wissen Ihnen das Leben retten."
Kessel schnaubte, doch dann nickte er. "Gut. Aber Sie tragen die Verantwortung, wenn er verbrennt."
"Verbrennt?", fragte Ambrosz, sichtlich beunruhigt.
"Verstanden.", erwiderte Hand, "Und jetzt los, sie hätten bereits vor 90 Sekunden im Einsatzfahrzeug sein sollen."

Während der Fahrt wurde das Team über den Lautsprecher im Einsatzfahrzeug von 'Hand' gebrieft: "Unser Agent vor Ort hat zuletzt berichtet, dass noch 4 Exemplare von SCP-097-DE am leben waren, bevor das Gebiet zu heiß wurde und er sich zurückziehen musste."
"Was ist mit der unbekannten Entität, gegen die die Reichsdämonen kämpfen?, fragte Falk.
"Die Entität scheint einigen Schaden durch die Angriffe der 097-DEs davongetragen zu haben, aber sie scheint sich durch die Absorption menschlicher Leichen heilen zu können."
"Wie ist der Zustand des Dorfes?", fragte Marek.
"217 gemeldete Einwohner vor diesem Ereignis. Etwa die Hälfte der Bewohner dürfte den Kämpfen zum Opfer gefallen sein, der Rest ist entweder geflohen oder hält sich versteckt in-"
"Geflohen?", unterbrach Falk.
"Ja", erklärte Hand, "aber Einsatzteams sind bereits unterwegs, um sämtliche Zeugen zu isolieren."
Kessel nickte. "Ein Problem weniger. Wie sehen unsere genauen Einsatzziele aus?"
"Primäre Einsatzpriorität ist die Neutralisierung jeglicher SCP-097-DE-Instanzen.", erklärte Hand. "Sekundäre Priorität hat die Eindämmung der unbekannten Entität; nach Möglichkeit, ohne bleibende Schäden an dem Wesen anzurichten."
"Was ist mit Zivilisten?", fragte Ambrosz.
Die Blicke des restlichen Teams wandten sich dem Neuling zu, abgesehen von Saskia, die das Einsatzfahrzeug fuhr und sanft den Kopf schüttelte.
Aus dem Lautsprecher erklang ein Seufzen. "Zivilisten zu schützen hat keine Priorität. Wenn Sie eine Möglichkeit sehen, Zivilisten zu schützen, tun Sie es - aber nur, wenn Sie dadurch weder den Einsatz noch das Team noch sich selbst in Gefahr bringen. Verstanden?"
Ambrosz nickte. "Wollte nur sichergehen."
Der Neuling wirkte völlig ruhig, beinahe entspannt … Kessel hatte damit gerechnet, dass Ambrosz zittern würde, sich übergeben oder sonst irgendein Anzeichen von Angst zeigen würde; aber der Mann war nicht einmal ein klein wenig blass.
Was aber aufgrund der Tatsache, dass er ohnehin sehr blass war, vielleicht auch nur nicht auffiel.
"Wissen wir etwas über die genauen Fähigkeiten der unbekannten Entität?", fragte Falk und riss Kessel damit aus seiner Überlegung.
"Kaum", kam die ungewohnt unobjektive Antwort aus dem Lautsprecher. "Es ist groß, hat Zähne, scheint aus einer halbfesten Art von Materie zu bestehen, und ist sehr stark. Das wars dann auch sch-"
"FUCK!" Saskias Schrei wurde von den Geräuschen einer Explosion, quietschender Reifen, und einem Knall abgelöst; und durch einen Ruck wurde die gesamte MTF aus ihren Sitzen gehoben.

Als Kessel sich wieder aufrappelte, hörte er schon ein lautes Brüllen: "Kannst du jetzt nicht mal meht geradeaus fahren, du dumme-"
"Ruhe." Ambroszs Stimme war leise, aber durchdringend, und brachte Falk sofort zum Schweigen. "Kessel?"
Kessel nickte, vergewisserte sich mit einem Blick in die Runde, dass alle unverletzt waren; und wandte sich dann an Saskia, die sich gerade aus dem Fahrersitz erhob: "Was ist passiert?"
"Purpurner Feuerball, wahrscheinlich von einem Reichsdämon. Kam direkt vorm Fahrzeug runter, ich wich aus, krachte in ein Verkehrsschild."
Kessel nickte. "Hab-"
"Gut reagiert, Doktor Schmied", sagte Ambrosz, bevor er sich mit einem entschuldigenden Blick Kessel zuwandte. "Verzeihung."
"Haben Sie den Angreifer gesehen?", fuhr Kessel fort.
Saskia schüttelte den Kopf. "Wir sind nah am Dorf, noch etwa 300 Meter entfernt. Der Feuerball war vielleicht ein Fehlschuss."
"Die Reichsdämonen haben über 300 Meter Angriffsreichweite?" Ambrosz hatte die Augenbrauen hochgezogen.
Falk schnaubte. "Was glauben Sie, warum es so schwierig ist, die Dinger zu töten? Man muss geschickt sein, um nah genug ranzukommen."
"Wir müssen den restlichen Weg zu Fuß gehen." Kessel legte einen Finger an das Funkgerät in seinem Ohr: "Alles mitgehört, Hand?"
Es kam keine Antwort. "Hand!"
Nichts.
"Vielleicht stört die unbekannte Entität Funksignale in der Nähe", meinte Siggi.
Marek schüttelte den Kopf. "Wir haben einen Verstärker in der Motorhaube. Wir müssten jede Störung durchdringen können, zumindest in der Nähe des Fahrzeugs."
"Der wurde wahrscheinlich beim Crash zerstört", mutmaßte Falk.
Kessel schüttelte den Kopf. "Ist jetzt nicht wichtig. Wir haben eine Mission zu erfüllen. Los jetzt."

Als das Team am Rand des Dorfes ankam und hinter der Mauer eines kleinen Hauses in Deckung ging, räusperte sich Falk. "Keinerlei Kampfgeräusche. Das Knistern von Feuer, aber keine Explosionen oder wütenden Ausrufe, wie wir sie von Reichsdämonen gewöhnt sind."
"Vielleicht sind sie schon tot", flüsterte Marek.
"Oder sie verstecken sich gerade und lecken ihre Wunden", meinte Saskia.
Kessel nickte. "Wir wissen es erst, wenn wir sie gefunden haben." Er wandte sich Ambrosz zu. "Ich muss wissen, was Sie können, bevor wir da reingehen."
Ambrosz nickte. "Natürlich. Ich habe theoretisches Wiss-"
"Nein", unterbrach Kessel mit scharfer Stimme. "Das weiß ich schon. Ich muss über die praktischen Anwendungsmöglichkeiten in einer Kampfsituation Bescheid wissen."
"Das werden wir gemeinsam herausfinden", erwiderte Ambrosz. "Ich habe die letzten Jahre damit verbracht, jedes Werk über Okkultismus, welches ich finden konnte, zu studieren; darunter auch einige der Aufzeichnungen von Herr Rass."
"Wer ist der noch gleich?", fragte Siggi.
Falk verdrehte sie Augen und flüsterte: "Der Anführer des Vierten Reichs und der Irre, der die Reichsdämonen erschaffen hat. Bist du schon so senil-"
"Wir hatten gerade einen Autounfall und sind in einer Stresssituation, für die Pfarrer nicht ausgebildet werden", unterbrach Ambrosz. "Haben Sie bitte Verständnis."
Falk nickte, während Kessel den Kopf schüttelte. "Konfliktbewältigung können wir nach dem Einsatz angehen."
"Natürlich, verzeihung", antwortete Amrbosz mit einem Nicken. "Also, ich habe sehr viel theoretisches Wissen über - mangels besserer Terminologie - die 'Dämonen', die Rass beschwört und mit deren Herzen er die Reichsdämonen erschaffen hat. Und ich kenne auch einige der Rituale, die Rass benutzt hat. Mit etwas Glück kann ich entsprechende Gegenmaßnahmen anwenden - Rituale, die den Feind schwächen, die Kräfte nehmen, eventuell sogar die Dämonenherzen zurück in die Dimension schicken, aus der sie kamen."
Marek seufzte. "Das klingt ja alles ganz gut, aber Sie haben noch nichts davon praktisch angewandt?"
Ambrosz schüttelte den Kopf. "Unglücklicherweise nicht. Aber ich bin zuversichtlich, dass ich Ihrem Team behilflich sein kann - zur Not auch 'nur' als Köder."
Kessel nickte. "Wie lange würden Sie brauchen, um einen Reichsdämon zu schwächen?"
"Sofern das Ritual funktioniert, bräuchte ich etwa 90 Sekunden an einem Platz mit ständiger Sichtweite zum Ziel. Auch dürfte ich diesen Platz nicht verlassen."
"Das kriegen wir hin", sagte Falk nickend.
"Gut", sagte Kessel, ehe er tief Luft holte, "wir rücken aus drei Richtungen vor. Siggi und Saskia kommen mit mir, wir gehen gleich hier von Süden aus rein und versuchen, eines unserer Ziele zu lokalisieren. Wenn ihr Waffenfeuer hört, haben wir was gefunden. Falk, du umrundest das halbe Dorf und gehst aus nördlicher Richtung rein, du bist alleine schneller und unauffälliger. Wenn du was findest, beobachten, Taktiken überlegen, und dann ein Zeichen geben."
Falk nickte. "Kinderspiel."
"Marek, du gehst mit Ambrosz aus Osten rein. Versucht, einen Ort zu finden, von dem Ambrosz eine gute Aussicht hat, dann bereitet alles für ein Schwächungs-Ritual vor. Wenn ihr auf Reichsdämonen oder die unbekannte Entität stoßt, defensiver Rückzug."
Marek und Ambrosz nickten.
"Dann los."

"Glauben Sie wirklich, dass dieses Ritual funktioniert?", fragte Saskia, während sie mit Kessel und Siggi durch die windenden Gassen des Dorfes schlich.
Kessel zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Aber es basiert auf Rass' Aufzeichnungen, also wär's möglich - und wenn wir schon gegen ein unbekanntes Wesen antreten, hätte ich zumindest gern einen Vorteil gegen den bekannten Feind, sofern noch vorhanden."
Saskia nickte. "Wäre gut."
Ein Schrei ließ die Drei stoppen.
"Ist das die Entität?", fragte Siggi.
Der Schrei bohrte sich in Kessels gehör, Tränen stiegen ihm in die Augen. "Ich … ich glaube, das ist ein Mensch."
Saskia schüttelte den Kopf. "Nein, wie könnte ein Mensch - was könnte einen Menschen zu so einem Schrei-"
"Ruhe jetzt." Kessel hatte seine Fassung wiedergewonnen. "Kommt aus dem Haus am Ende der Gasse. In Deckung gehen, langsam vorrücken."
Während Saskia und Siggi auf der einen Straßenseite in Deckung gingen und von Deckung zu Deckung pirschten, tat es ihnen Kessel auf der anderen Straßenseite gleich. Der Schrei war inzwischen verstummt, aber Kessel konnte ihn immer noch hören. Er bezweifelte, dass in dem Haus ein Reichsdämon war; denn so grausam die Reichsdämonen auch waren, einem Menschen einen solchen Schrei zu entlocken … nichts und niemand mit dem Hauch einer Seele könnte oder würde freiwillig einen solchen Schrei erzwingen.
Die Drei kamen dem Haus langsam näher, waren schon weniger als 50 Meter entfernt, als-
"STIRB!"
Das Haus explodierte in purpurnen Flammen, Kessel duckte sich zwischen zwei Gebüsche und blickte nach oben.
Ein Reichsdämon, etwa 25 Meter über dem Boden, die Flügel langsam schlagend, um die Höhe beizubehalten. Doch Kessel fiel vor allem eine Sache auf: das Blut, welches aus dem tropfte, was einst eine Schulter war doch nun nur noch ein klaffendes Loch neben dem Hals des Reichsdämons.
Kessel sah zur anderen Straßenseite hinüber. Saskia und Siggi waren gegen den Stamm einer Eiche gedrückt, unter der Baumkrone vor dem Blick des Reichsdämons verborgen.
Unglücklicherweise baten die Büsche nicht den gleichen Schutz.
"Jetzt ist noch immer eine von diesen Maden am Leben?", brüllte der Reichsdämon, als sein Blick auf Kessel fiel. Er zuckte mit seinem einen Handgelenk, wodurch ein Ball aus purpurnen, züngelnden Flammen in seiner Handfläche entstand.
Kessel hob sein Gewehr, eröffnete das Feuer; doch der Reichsdämon wich aus und warf seinen Feuerball. Kessel sprang zur Seite, ehe die Hälfte des Gartens, in dem er sich befand, in Flammen aufging. Nun eröffnete Saskia mit ihrer Pistole das Feuer; ihr Speer war zu schwer, um ihn auf den Reichsdämon zu werfen, besonders aus dieser Entfernung. Siggi indes träufelte Weihwasser über ein paar Pistolenmagazine.
"Ein Pfarrer?", lachte der Feind. "Ich habe noch nie einen Pfarrer gegrillt …"
Damit wandte sich der Reichsdämon Siggi und Saskia zu und ließ einen Feuerstrahl auf die beiden herniedergehen. Die Beiden drehten sich um, liefen zwischen zwei Häusern durch und verschwanden um eine Ecke; der Reichsdämon verfolgte sie.
Kessel richtete sich auf, ergriff sein Gewehr und wollte seinen Teammitgliedern folgen.
Dann hörte er ein lautes Knarzen aus dem brennenden Haus.
Gefolgt von einem Krachen.
Dann erblickte Kessel hinter den purpurnen Flammen eine schwarze Silhouette - unförmig, kaum erkennbar; und doch zitterte Kessel, ihm wurde eiskalt und doch spürte er, wie jede Pore seines Körpers zu schwitzen begann. Langsam wich er zurück, den Blick fest auf die Silhouette gerichtet, die ganz langsam, nach und nach, immer klarer wurde, als sie sich dem Rand des Infernos näherte. Lange Zähne, die an einem schwarzen … Etwas hingen, kamen durch die Flammen, immer mehr, und immer längere Zähne …
Und Kessel spürte, wie ihm etwas Festes gegen die Kehle gedrückt wurde, er rückwärts in einen Hauseingang gezogen wurde, und wie die Person, die ihn festhielt, ihm ins Genick atmete.
"Wer-"
"Leise", hauchte die Person hinter ihm.
Dann tauchte eine schwarze Masse aus Zähnen, Dunkelheit und Teer vor dem Hauseingang auf, zog langsam vorbei, und mit jeder verstreichenden Sekunde spürte Kessel, wie sein Herz schneller schlug, seine Atmung immer schneller wurde, und wie sich jeder einzelne Muskel in seinem Körper mehr und mehr verkrampfte.
Schließlich war das schwarze Wesen vorbeigezogen, anscheinend, ohne Kessel bemerkt zu haben; und der Mann hinter ihm ließ ihn los.
Obwohl er noch immer von purer Angst erfüllt war, wandte sich Kessel augenblicklich um, hob sein Gewehr und sagte: "Warum haben Sie mich angegriffen?"
Vor ihm stand ein Mann, etwa vierzig Jahre alt, mit dunklen Haaren, eine schwarzen Hemd und einer Jeanshose; und mit einem etwas über einen Meter langem Stock in der Hand.
Der Mann hob die Hände über seinen Kopf und sagte: "Schon gut, ich rette Ihnen nie wieder das Leben, Kessel."
"Woher kennen Sie meinen Namen?"
Der Mann seufzte. "Ich bin der Agent, der über dieses Chaos Bericht erstattet hat."
"Ich dachte, Sie hätten sich zurückgezogen?" Kessel musterte den Stock, während er sprach. Der Stock war schwarz, glänzte, und am oberen Ende befand sich ein kugelförmiger Knauf, scheinbar aus einem braunen Edelstein.
"Ich wollte mich zurückziehen", antwortete der Mann, "aber ich wurde von den 097-DEs in die Ecke gedrängt. Ich konnt mich nur verstecken, weil dieses unbekannte Wesen sie abgelenkt hat."
Langsam ließ Kessel seine Waffe sinken. "Und wieso haben Sie das nicht gemeldet?"
"Wollte ich", erwiderte der Mann, der nun auch seine Hände sinken ließ, "aber zuerst war die Gefahr, vom Feind gehört zu werden, zu groß; und als ich es dann versuchte, war der Funk tot."
Kessel nickte. "Okay … aber warum schleppen Sie einen Gehstock mit sich herum?"
Der Mann gluckste. "Oh, aber das ist kein Gehstock; es ist ein Flanierstock."
Kessel schnaubte. "Schön, aber warum tragen Sie ihn hier mit sich herum?"
"Oh, einen Flanierstock", der Mann klemmte den Stock lächelnd unter seinen Arm, "sollte man nie unterschätzen."
"Wenn Sie meinen." Kessel warf einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass die unbekannte Entität weitergezogen war. "Was können Sie mir über diese Entität sagen, Agent…?"
Der Mann nickte. "Ein beeindruckendes Exemplar, nicht wahr?"
Kessel zog eine Augenbraue hoch. "Sie finden dieses Monster beeindruckend?"
"Insofern, wie eine Fliege eine Vogelspinne beeindruckend findet, ja. Schrecklich, und eine direkte Begegnung ist zu vermeiden, aber es nicht zu leugnen, dass dieses Wesen geradezu majestätisch ist. Grauenhaft, aber majestätisch."
"Sie sind ein seltsamer Mann, Agent …", sagte Kessel kopfschüttelnd, "… wie heißen Sie eigentlich?"
Der Mann schlug mit seinem Flanierstock auf den Boden. "Ach, wie nachlässig von mir! Agent Blauwild, zu Ihren Diensten."
"Blauwild?" Die Haare in Kessels Nacken stellten sich auf, als die Erinnerungen an den Kameraden, den er eine Woche zuvor hatte steben sehen, sich wieder in den Vordergrund seines Bewusstseins drängten.
Der Agent nickte. "Ja. Xaver war mein Cousin."

"Das war eindeutig das Geräusch von mehreren Schüssen."
Marek seufzte. "Ich weiß, Ambrosz; aber Kessel hat uns einen klaren Befehl gegeben: Position mit Aussicht suchen, eines deiner Rituale vorbereiten, warten."
"Ich weiß, und ich befolge immer meine Anweisungen." Ambrosz seufzte. "Aber es fühlt sich nicht richtig an, dass wir hier nach nem Aussichtspunkt suchen, während die Anderen kämpfen."
"Dein erster Feldeinsatz, Ambrosz?", flüsterte Marek, während er mit erhobener Pistole um eine Ecke blickte.
Ambrosz nickte.
"Dann empfehle ich dir, dich völlig auf die aktuellen Befehle zu konzentrieren." Marek blickte Ambrosz direkt in die Augen. "Oder auf meine Stimme, wenn dir das hilft."
Sein Gegenüber lächelte schief. "Ist eine schöne Stime."
Marek gluckste. "Und du hast wundervolle Augen", flüsterte er mit näselnder Stimme, ehe ihm ein Kichern herausrutschte.
"NEIN!"
Der Schrei eines Mannes klang quer durch das ganze Dorf, gefolgt von einem weiteren Schrei … einem Schrei, der sich in Mareks Brust bohrte und ihm die Luft zum Atmen nahm.
"Was ist das?", hauchte Ambrosz.
Marek schüttelte den Kopf, atmete schnell ein und aus, immer schneller, und bekam doch keine Luft.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Ambrosz in seiner Tasche herumkramte, doch er konnte sich nicht dazu bringen, dorthin zu sehen … oder sonst eine Bewegung zu machen, weder mit seinem Körper noch mit seinem Kopf und nicht einmal mit seinen Augen.
Ein Leuchten blendete ihn, er atmete etwas ein, was sich wie Staub anfühlte, und hörte ein Flüstern, leise und in einer fremden Sprache.
Seine Atmung beruhigte sich, sein Körper entspannte sich, und Marek sah Ambrosz an, der gerade ein kleines Objekt in seine Tasche fallen ließ.
"Was war das?"
"Du hattest eine Panikattacke", antwortete Ambrosz. "Ich habe dir ein homöopathische Pulver ins Gesicht geblasen. Das Zeug wirkt beruhigend."
"Und das Licht?"
"Taschenlampe", erwiderte Ambrosz schulterzuckend. "Damit du dich auf deine Augen konzentrierst, sich dadurch deine Atmung verlangsamt und du mehr Pulver einatmest."
Marek blickte sich verunsichert um. "Weißt du, wo der Schrei herkam?"
Ambrosz schüttelte den Kopf. "Es war, als würde er aus allen Richtungen kommen … und sich in sämtliche Gehirnzellen bohren."
Marek seufzte. "Sowas ist mir noch nie passiert. Ich habe schon gegen Dämonen gekämpft und Freunde sterben sehen, aber-"
"Aber was auch immer dieses unbekannte Wesen ist", unterbrach Ambrosz, "es bringt Menschen dazu, Schreie auszustoßen, die die innersten und urtümlichsten Ängste menschlicher Wesen an die Oberfläche bringen."
Marek nickte, ehe er Ambrosz mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. "Wieso bist du ruhig geblieben?"
"Das hier ist mein erster Feldeinsatz", und eine tiefe Traurigkeit blickte durch Ambrosz's Augen, "aber ich habe schon viel gesehen. Und das Studium des Okkulten und Rass' Aufzeichnungen … können schlimmere Ängste hervorbringen als ein Schrei."
Marek wollte nachfragen, entschied sich aber dagegen. Sie hatten sich schon lange genug von ihrem Einsatz ablenken lassen. "Gehen wir weiter."

"Denkst du, wir haben ihn abgehängt?", fragte Siggi verunsichert.
Saskia schüttelte den Kopf. "Wenn wir das haben, wird dein Geplapper ihn gleich wieder anlocken", flüsterte sie zornig.
Der Pfarrer seufzte. "Sei nicht so herablassend, mein Kind."
"Ich will gar nicht wissen, was du mit Kindern machst, Pfarrer."
Der Pfarrer zuckte, als hätte ihn ein Schlag getroffen. "Was?"
"Vergiss es." Saskia lugte vorsichtig unter dem Rand des Müllcontainers hervor. "Ich sehe den 097-DE nicht mehr."
Siggi legte ihr ungelenk eine Hand auf die Schulter, von dem wenigen Platz unter dem Container eingeschränkt. "Dann kannst du mir beichten, was du gemeint hast."
Saskia schüttelte den Kopf.
"Erkläre es, Saskia."
"Wir haben Wichtigeres zu tun, Herr Pfarrer." Sie funkelte ihn an. "Oder willst du hier bleiben, bis das Mons… bis die unbekannte Entität uns findet?"
Siggi schüttelte resigniert den Kopf, anschließend krochen die Beiden langsam unter dem Müllcontainer hervor.
"Wir müssen Kessel finden", sagte Saskia.
"Oh, daran hätte ich ja nie gedacht", flüsterte Siggi. "Gut, dass ich eine Biologin an meiner Seite habe."
"Was soll das heißen?", fauchte Saskia.
"Das soll heißen, dass wir uns auf unsere verdammte Mission konzentrieren sollten."
Falk stand plötzlich neben den Beiden. Weder Siggi noch Saskia hatten sie bemerkt.
Siggi schüttelte den Kopf. "Wie machst du das immer?"
"Mit Schuhcreme." Falk wandte sich Saskia zu. "Wo habt ihr Kessel zuletzt gesehen?"
"Etwa dreihundert Schritte südlich von hier", Saskia wandte den Blick ab, "wird wurden durch einen einarmigen Reichsdämon voneinander getrennt."
Falk nickte. "Die unbekannte Entität?"
"Die ist tot", erwiderte Siggi. "Von dem Reichsdämon mitsamt einem Haus in Brand gesteckt."
"Wenn es so einfach wäre, die Entität zu töten", knurrte Saskia, "dann hätten die Reichsdämonen das schon vor unserer Ankunft getan."
Siggi zuckte mit den Schultern. "Der Herr wird seine Gründe haben, uns-"
"Im Namen deines Gottes, halt's Maul", fauchte Falk. "Und jetzt lo-"
Unvermittelt richtete sie ihren Blick nach oben.
"Was hörst du?", fragte Saskia.
"Flügel."
"Runter", flüsterte Saskia. Sie duckte sich hinter den Müllcontainer, während Siggi in einem nahen Hauseingang in Deckung ging.
Falk nahm ihre Pistolen, eine in jede Hand, den Blick nach wie vor nach oben gerichtet.
Dann fuhr sie herum, richtete ihre Pistolen auf ein nahes Dach, und drückte ab. Und im selben Moment, als das erste Projektil den Lauf verließ, erschien der einarmige Reichsdämon, als er über das Dach flog, auf welches Falk zielte.
"Maden!", schrie der Reichsdämon. "Unreine, verfickte kleine Würmer!"
Die Kugeln aus Falks Pistolen prallten von der Haut ihres Ziels ab. Unvermittelt warf sie die Magazine aus ihren Pistolen ab. "Munition!"
Der Reichsdämon grinste siegessicher und begann, einen immer größer werdenden Feuerball in seiner Hand zu erzeugen. "Jetzt -"
Saskia sah, dass Falk noch mindestens acht Magazine an ihrem Gürtel hängen hatte, aber nach einem winzigen Augenblick begriff sie. Sie nahm zwei der Magazine, die Siggi zuvor gesegnet hatte und warf sie dem Pfarrer zu; dieser zog mit einer schnellen Handbewegung ein Fläschchen Weihwasser aus seiner Hosentasche, goß dieses über die Magazine, und warf sie.
"-stirbst-"
Falk fing sie, schob sie behände in ihre Pistolen, ohne eine davon loszulassen, und schoss auf den Reichsdämon, der mit schneller Stimme sprach.
"-du!"
Der Feuerball löste sich auf, als die geweihten Kugeln auf den Körper des Reichsdämons trafen.
"Scheiße, das tut ja tatsächlich weh!"
Falk schoss nun nur noch auf die Flügel des Reichsdämons, deren stetiges Schwingen immer mehr stockte, die Flughöhe des Reichsdämons sank, ehe die Flügel sich in Luft auflösten und ihr Besitzer 15 Meter tief fiel, ehe er auf den harten Asphalt der Straße prallte.
Saskia nahm ihren schmiedeeisernen Speer zur Hand. "Falk, gib mir Deckung. Siggi, hast du noch Weihwasser übrig?"
Beide nickten.
"Dann neutralisieren wir das Ziel."
"Wie willst du das anstellen?", fragte Falk, während die Drei langsam auf den regungslos auf der Straße liegenden Reichsdämon zugingen.
"Beide Herzen zerstören", flüsterte Saskia, "wie üblich."
Falk schüttelte den Kopf. "Dein Speer reicht nicht, um das Dämonenherz zu zerstören. Es regeneriert sich viel zu schnell, und solange das Dämonenherz sich regeneriert, tut es auch das menschliche."
"Dem Ziel felt ein Arm samt der Schulter. Ich durchstoße durch diese Wunde hindurch beide Herzen auf einmal."
Siggi seufzte. "Bist du sicher, dass das funktioniert?"
"Wenn der Speer mit Weihwasser bedeckt ist, dann vielleicht schon." Saskia warf Siggi ein sanftes Lächeln zu. "Hab Vertrauen."
"Deckung!" Noch während Falk das rief, wich sie knapp einem Feuerball aus. Saskia wandte sich um und sah einen zweiten Reichsdämon, weiblich, mit intakten Armen, der auf die Gruppe zu kam.
"And you fall into a burning ring of fire!" Sie hob ihren Arm, und ein Strahl aus Feuer stob auf die Gruppe zu.
Saskia sprang zur Seite, riss dabei auch Siggi aus dem Pfad des Feuers; während Falk behände zur Seite wich und das Feuer auf den weiblichen Reichsdämon eröffnete.
"You'll go down, down, down, 'cause the flames are reiner!" Sie warf zwei Feuerbälle; Falk wich einem aus, wurde aber vom zweiten am Bein erwischt und fiel schreiend zu Boden.
Saskia warf ihren Speer in Richtung des Feindes, doch diese schlug ihn mit einer Handbewegung zur Seite.
"And it burns", ein weiterer Feuerball zwang Siggi und Saskia, in entgegengesetzte Richtungen auszuweichen, "burns", zwei Flammenstrahlen setzten die Straße links und rechts von Saskia in Brand, "BURNS!" und ein gewaltiger Strahl aus purpurnem Feuer stob auf Saskia zu.
Aus dem Augenwinkel sah sie eine Silhouette, die durch die Flammen sprang, doch noch bevor ihr Verstand dies wirklich registrieren konnte, wurde sie von der Silhouette gepackt und fiel mit der springenden Gestalt über die Flammen auf der anderen Seite hinweg auf den Asphalt.
Das Knallen von Kessels Sturmgewehr erklang, Saskia blickte auf, und sah die Reichsdämonin fluchend davonfliegen, während sie von Kugeln durchbohrt wurde, bevor sie hinter dem Dach der nahen Dorfkirche aus der Sicht verschwand.

"Sind Sie in Ordnung?"
Saskia blickte neben sich. Ein etwa vierzig Jahre alter Mann richtete sich auf, stüzte sich auf einen Stock, und reichte ihr die Hand.
"Ja", sie reichte dem Mann die Hand und stand mit seiner Hilfe auf, "danke."
"Jetzt haben Sie schon zwei Mitglieder dieses Teams gerettet", gluckste Kessel, der auf Saskia zukam.
Siggi kniete neben Falk. "Verbrennungen 2. Grades am Schienbein. Das wird wieder."
"Feuerfeste Kleidung für'n Arsch…", flüsterte Falk mit erstickter Stimme, "Scheiße, das brennt."
Kessel warf ihr einen besorgten Blick zu. "Können Sie stehen?"
Falk richtete sich langsam auf. "Ja. Aber rennen oder springen wird ein Problem sein. Empfehle, mich für den Rest des Einsatzes hier zu lassen, um keine Gefahr für das Team darzu- Achtung!"
Der einarmige Reichdämon hatte sich aufgerichtet und warf einen Feuerball auf Kessel. Dieser sprang zur Seite, rollte sich ab, legte an und eröffnete das Feuer.
Die rechte Seite des Brustkorbs des Reichsdämonen wurde durchbohrt, doch jede der Wunden schloss sich innerhalb von Sekunden. Kessel erhielt das Feuer aufrecht und brüllte: "Magazin ist bald leer! Töten, jetzt!"
Der Reichsdämon schüttelte den Kopf. "Ihr werdet mich nicht töten. Ich habe den schwarzen Albtraum überlebt, ich werde euch überleben." Er hob seinen Arm und erzeugte einen Feuerball.
"Wo ist mein Speer?" Saskia lief über die Straße und suchte nach dem Speer.
Der Reichsdämon lachte. "Gute Nacht!"
"Schlaf gut." Der Feuerball verschwand, der Dämon ließ den Arm sinken, und atmete leise aus. Der Mann mit dem Flanierstock hatte eben diesen durch die klaffende Wunde, wo sich einst eine Schulter befunden hatte, getrieben; und damit das menschliche Herz des Reichsdämonen durchbohrt.
Dieser ging in Flammen auf und fiel reglos zu Boden. Kessel atmete tief durch. "Gute Arbeit, Agent Blauwild."
"Blauwild?" Saskia, Siggi und Falk starrten Kessel und den Mann mit dem Flanierstock abwechselnd an.
"Xavers Cousin", erklärte Kessel. "Hat mich vor der unbekannten Entität gerettet."
"Apropos", sagte Siggi, die Hand erhoben wie ein Schuljunge, "wo ist die Entität eigentlich?"
Agent Blauwild räusperte sich. "Nun, das Wesen jagt Menschen. Es hat inzwischen vermutlich alle Einwohner des Dorfes, die nicht entkommen konnten, getötet. Also ist es entweder weitergezogen …"
"… oder es wird zu uns kommen." Kessel seufzte. "Ich könnte auf eine weitere Begegnung gerne verzichten."
"Zu spät!" Marek kam aus der Dorfkirche gerannt, lief auf das Team zu, und brüllte: "Es nähert sich aus westlicher Richtung!"
"Vorschläge. Jetzt." Kessel blickte von einem Mitglied seines Teams zum nächsten, doch außer Erschöpfung und Furcht sah er nichts.
"Aufteilen?", meinte Agent Blauwild. "In gleichmäßigen Abständen und mit der jeweils gleichen Entfernung zu der Gasse, aus der das Wesen kommen wird."
Kessel nickte. "Wenn schon sonst nichts, verhindert das zumindest, dass es uns alle auf einmal frisst." Er hob seine Hand und zeigte abwechselnd auf die einzelnen Mitglieder des Teams und die Positionen, die sie einnehmen sollten. Er brauchte keine Worte und nur wenige Sekunden, und alle brachten sich in Position.

Dunkelheit, Zähne und Teer, in einer unförmigen Masse, die wie ein zur gleichen Zeit festes und flüssiges Gas erschien, glitt an der Dorfkirche vorbei. Ging es? Schwebte es? Flog es? Kessel konnte es nicht beurteilen. Er wusste nur, dass sich jeder Muskel in seinem Körper verkrampfte, sich jedes Haar auf seinem Körper aufstellte, und jede Pore seines Körpers eiskalten Schweiß ausatmete.
"Scheiße - scheiße - scheiße", hörte er Falk murmeln.
Der Mann mit dem Flanierstock indes, etwa zehn Meter von Kessel entfernt, stützte sich mit beiden Händen auf seinen Stock und starrte die unbekannte Entität unentwegt an, kein Zeichen von Angst im Gesicht.
Das Wesen glitt bis vor die Türen der Dorfkirche, verharrte dort einen Moment, und bewegt sich dann langsam direkt auf Kessel zu.
Und zum ersten Mal seit einundzwanzig Jahren, seitdem Kessel sich beim Militär verpflichtet hatte, wusste er nicht, was er tun sollte.
"Kessel! Feuer eröffen?", rief Saskia.
Kessel antwortete nicht. Doch war es nicht nur die Angst, die ihn abhielt.
"Wo ist der Reichsdämon?", fragte er.
"Was?" Falk schüttelte den Kopf. "Konzentriere dich, verdammt!"
Kessel wich zurück. Warum stand sein Team plötzlich so verteilt da, wo war Marek auf einmal hergekommen, wie war die Entität plötzlich aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht? Wo war die Reichsdämonin, die Feuer auf Saskia geworfen hatte? Warum brannte der einarmige Reichsdämon auf einmal?
Agent Blauwild starrte Kessel mit hochgezogenen Augenbrauen an, während die unbekannte Entität langsam immer näher kam.
Blauwild? Wie Xaver? Aber das war nicht Xaver, Xaver war jünger, und Xaver war doch tot.
Kessel zuckte zusammen, als ihn eine Hand an der Schulter berührte. Marek stand plötzlich neben ihm.
"Atmete tief durch, Markus. Erinnere dich. Xaver starb vor einer Woche. Heute morgen haben wir einen Reichsdämon getötet. Bei der Nachbesprechung wurde uns Ambrosz zugeteilt. Jetzt sind wir in einem Dorf mit einer unbekannten Entität, und du musst uns Befehle erteilen. Los jetzt, Kessel."
Und wie ein Zug, der in den Bahnhof einfährt, fuhren all die Erinnerungen zurück in Kessels Verstand.
"Feuer frei! Saskia, wenn du einen guten Moment siehst, versuch den Speer! Siggi, wirf all das übrige Weihwasser! Falk, Granate!"
"Willkommen zurück", flüsterte Marek, während er sich umwandte, seine Pistole zog und das Feuer eröffnete.
Kessel hob sein Gewehr und schoss ebenfalls auf die Entität. Eine Granate traf auf das Wesen und explodierte. Die Kugel von Saskias Pistole prallten gegen das Wesen. Fläschchen mit Weihwasser prallten auf die Oberfläche des Wesens und zersprangen klirrend.
Und das Wesen steuerte unentwegt und ungerührt auf Kessel zu. Marek wich langsam zurück, ergriff Kessel an der Schulter und zog ihn langsam mit sich. Die Zähne der unbekannten Entität kamen immer näher. Kessel erinnerte sich an den Schrei, den er vor einer Weile gehört hatte.
"Es war mir eine Ehre", flüsterte Kessel, bevor er sein Gewehr sinken ließ, seine Pistole zog und sich an den Kopf legte.
"Warte!", rief Marek.
Die unbekannte Entität stoppte, und erzitterte. Ein Strahl aus Licht schien vom Turm der Dorfkirche auf das Wesen. Kessel sah nach oben und erblickte Ambroszky Stamek, der auf dem Dach des Kirchturms, umgeben von auf die Dachziegel gemalte Kreidesymbole, und hielt seine Arme nach oben, der Sonne entgegen. In der linken Hand hielt er eine Art Prisma, das Sonnenlicht, welches auf dieses traf, wurde verstärkt und auf den Spiegel geleitet, den Ambrosz in der anderen Hand hielt und der den Strahl auf das Wesen leitete.
"Evanescet umbra! Lux vos ardebit! Corpus est fragilis! Evanescet Umbra! Lux vos ardebit! Corpus est fragilis!", rief Ambrosz mit geschlossenen Augen.
Die Entität wich langsam zurück, doch steuerte dann, schneller als zuvor, auf Falk zu.
"Granaten!", brüllte Kessel, "Sofort!"
Falk warf vier Granaten auf die Entität, ein ohrenbetäubendes Krachen begleitete die Explosion aus Flammen, und ein Teil des Wesen fiel ab wie tote Blätter von einem Baum.
Und die Entität, mit einer Geschwindigkeit, die alles vorherige übertraf, glitt davon; weg von Falk, weg von Kessels Team, weg von der Kirche in Richtung Norden. Und dann war es fort.

"Sind das … sind das Leichen?", fragte Siggi.
Das Team stand um den 'Teil' der von der Entität abgefallen war, herum. Es waren drei menschliche Körper, pechschwarz und bedeckt mit etwas, was wie Teer und schwarzer Nebel aussah, und aus jedem von ihnen ragten Zähne.
Marek schüttelte den Kopf. "Sogar für unsere Verhältnisse ist das krank und grauenhaft."
Saskia kniete sich neben den Körpern hin, zog sich ein paar Gummihandschuhe an, und ergriff eines der schwarzen Handgelenke.
"Ich würde das nicht anfassen", meinte Falk.
"Dann ist es ja gut, dass ich hier bin", murmelte Saskia. "Kein Puls."
Siggi schnaubte. "Hattest du erwartet, einen Puls zu finden?"
"Nein", Saskia zog die Handschuhe aus und warf sie zur Seite, "aber ich hatte es befürchtet."
"Warum?", fragte Agent Blauwild.
Saskia seufzte. "Weil diese Leichen blinzeln."
Kessel starrte die Leichen an. Sie alle hatten die Augen halb geöffnet, auch wenn es durch die komplette Schwärze und die teerartige Substanz schwer zu sehen war. Und tatsächlich, ab und zu zuckten die Lider für einen kurzen Moment auf und ab.
"Tatsächlich", flüsterte Agent Blauwild, den Blick stetig auf die Leichen gerichtet, "Sie haben ein sehr gutes Auge fürs Detail, Doktor Schmied …"
"Hat es funktioniert?", fragte Ambrosz, der von der Dorfkirche her angelaufen kam. "Konntet ihr das Wesen verletzen?"
"Oh, du sexy Lebensretter!", rief Marek, "Lass dich umarmen!"
Er sprang auf Ambrosz zu und umarmte ihn so fest, dass Ambrosz nach Luft schnappte. "Gern … geschehehehen … Luft!"
Marek lies von Ambrosz ab, und Kessel sagte: "Gute Arbeit. Woher hatten Sie dieses … Ritual?"
Ambrosz atmete tief durch, warf Marek dabei einen gleichermaßen amüsierten und bösen Blick zu, und antwortete: "Glücklicher Zufall. Es war in den Aufzeichnungen von…"
Sein Blick fiel auf den Mann mit dem Flanierstock. "Wer ist das?"
"Agent Blauwilld. Cousin von Xaver Blauwild", antwortete Kessel.
Ambrosz nickte. "Agent Blauwild, okay … also ja, das Ritual war aus den Aufzeichnungen von Herr Rass, die ich studiert habe."
"Sie haben da einiges an Talent bewiesen", meinte Agent Blauwild lächelnd. "Man sollte Sie wirklich im Auge behalten."
Ambrosz zuckte zur Antwort lediglich mit den Schultern.
"Faust! Hören Sie mich?", erklang die vertraute Stimme aus dem Funkgerät in Kessels Ohr.
"Hand! Ja, ich bin hier."
Ein erleichtertes Seufzen erklang. "Ich dachte schon, wir hätten noch eine MTF verloren … Bericht."
"Reichdämonen sind entweder von der unbekannten Entität oder von uns neutralisiert worden, einer ist entkommen."
"Die Entität?", fragte Hand nach.
Agent Blauwild stupste indes eine der Leichen mit seinem Flanierstock mehrmals an. "Blinzeln …"
"Die unbekannte Entität konnte nur sehr knapp abgewehrt werden und ist ebenfalls entkommen", erklärte Kessel. "Wir konnten aber … einen Teil des Wesens vom Rest absprengen."
"Das ist ein Anfang", meinte Hand. "Teamstatus?"
Agent Blauwild stupste die zweite Leiche mit seinem Stock an. Auf Siggis wütenden Blick meinte er: "Ich will nur sichergehen, dass sie uns nicht angreifen."
"Falk ist verletzt, benötigt alsbald medizinische Versorgung. Ansonsten intakt."
"Gute Arbeit, Faust."
"Es war knapp", gab Kessel zu, "ohne Agent Blauwild hätten wir mindestens zwei Verluste zu verzeichnen gehabt, mich eingeschlossen."
Und auch die dritte Leiche wurde mit dem Flanierstock mehrmals angestupst.
"Wovon sprechen Sie?", fragte Hand.
"Nun", begann Kessel, "zuerst hat er mich vor der Entität gerettet, dann-"
"Nein!", unterbrach Hand ihn so laut, dass es auch alle, die nicht an dem Funkgespräch beteiligt waren, hören konnten. "Wer ist Agent Blauwild?"
"Der Agent, der diesen Vorfalll gemeldet hat", erklärte Kessel. "Und Xavers Cousin."
"Moment, ich überprüfe." Einen Moment lang blieb es still, und die fragenden Blicke des Teams waren auf Kessel gerichtet. "Es gibt keinen Agent Blauwild. Und Xaver war ein Waise, Kind von zwei Einzelkindern; er hat weder Cousins noch Geschwister noch sonstwelche Angehörigen."
Kessels Magen krampfte sich zusammen. Unauffällig ließ er seine Hand zu der gehalfterten pistole gleiten.
"Wer zur Hölle ist da bei Ihnen?", fragte Hand.
Kessel wandte sich mit erhobener Pistole um, wollte zielen -
Aber der Mann mit dem Flanierstock war verschwunden.
"Wo ist er?", brüllte Kessel.
Das Team blickte sich verwirrt um. "Agent Blauwild?", fragte Saskia.
"Es gibt keinen Agent Blauwild, er hat uns verarscht!", Kessels Augen suchten das Gebiet ab, auf jede Bewegung, jedes Lebenszeichen, jeden bescheuerten Flanierstock.
Falk schüttelte den Kopf. "Er kann nicht weg sein. Ich hätte etwas hören muss, wenn er weggelaufen wäre."
"Aber er hatte nicht genug Zeit, um sich langsam wegzuschleichen", meinte Siggi.
"Kessel", flüsterte Marek.
"Ausschwärmen", befahl Kessel. "Zweiergruppen."
"Kessel", sagte Marek laut.
"Findet ihn", fauchte Kessel, "er darf nicht davonkommen."
"Kessel!"
"Was, Marek?", knurrte Kessel.
Marek blickte Kessel eindringlich in die Augen. "Wir haben drei Leichen aus der Entität rausgesprengt, richtig?"
"Ja, und?"
"Wo sind die?"
Kessel sah zu der Stelle, wo die Leichen gelegen hatten. Doch sie waren fort, ebenso spurlos verschwunden wie der Mann mit dem Flanierstock. Und Kessel rieb sich kopfschüttelnd die Schläfen. "Verdammt."

"Da sie sich in einer Kampfsituation befanden und keine Möglichkeit hatten, Kontakt zur Foundation herzustellen; und weil der Mann mit dem Flanierstock ohnehin schon alles über Ihr Team und die Foundation zu wissen schien", erklärte Hand, "sieht man diesen Fehler als nahezu unvermeidbar an."
Kessel nickte. Besseres hatte er nicht hoffen können. Er spürte, wie die Blicke seines Teams auf ihm ruhten. Sie alle fragten sich vermutlich, warum Kessel es nicht bemerkt hatte … er selbst fragte sich, warum er nicht bemerkt hatte, dass er belogen wurde.
"Zur Zeit", erklärte Dr. Klanic, "wird davon ausgegangen, dass der Mann mit dem Flanierstock kein Mitglied des Vierten Reichs ist, da er sein Leben riskiert hat, um Dr. Schmied vor einem 097-DE zu retten und zudem selbst einen 097-DE getötet hat."
"Es wurde eine Fahndung nach dem Mann mit dem Flanierstock herausgegeben. Wir hoffen, dass er über keine anomalen Fähigkeiten verfügt, die eine Ergreifung erschweren." Hand schüttelte den Kopf. "Außer Teleportation, wenn Ihre Berichte korrekt sind."
"Das habe ich lediglich theorisiert", erklärte Falk, die mit kurzer Hose und verbundenem Bein neben Kessel saß.
Falk nickte. "Schon klar … wie dem auch sei, der Einsatz wird als erfolgreich an der Grenze zum Fehlschlag eingestuft. Wegtreten."
Klanic schüttelte den Kopf. "Ich möchte noch erwähnen, dass ihre erfolgreiche Abwehr der Entität, bei der es sich vermutlich um SCP-092-DE-04 handelte, einen außerordentlichen Erfolg darstellt."
"Danke, Dr. Klanic", meinte Hand ungeduldig, "aber müssen Sie nicht los? Ihr Flug zu Standort-DE6 wartet."
"Immer ein Vergnügen, mit Ihnen zu arbeiten, Hand", murmelte Klanic, ehe er mit seinem Rollstuhl davonfuhr.

"Wer ist da?", rief Kessel laut, während er aus der Dusche in seinem Badezimmer herausstieg. Ein lautes Klopfen an der Wohnungstür hatte ihn beim Duschen unterbrochen.
"Saskia Schmied. Kann ich mit Ihnen reden?", erklang die Antwort, gedämpft durch die zwei verschlossenen Türen.
"Moment", Kessel schnappte sich ein Handtuch, trocknete sich schnell notdürftig ab, und hing sich das Tuch um die Taille.
"Da habe ich einmal ein ganzes Wochenende frei …", murmelte er, während er das Bad verließ. Aber der Gedanke, dass das Wochenende schon vorbei war, beruhigte ihn wieder. Am nächsten Tag hätte er Saskia ohnehin wieder gesehen.
Er öffnete die Tür, und Saskia trat sofort ein. "Tut mir leid, dass ich Sie störe, aber-"
Ihr Blick fiel auf das Handtuch um Kessel Taille.
"Ja, ich war gerade duschen", meinte Kessel ungeduldig, "wie kann ich Ihnen helfen?"
"Oh, ja." Saskia schüttelte den Kopf. "Verzeihung. Ich … ich wollte mich entschuldigen."
Kessel zog die Braue hoch.
"Für mein Verhalten", erklärte Saskia. "Ich habe mich wie eine karrieregeile Schlampe benommen. Aber … unsere Arbeit, jetzt in der MTF … ist wichtiger als meine Karriere."
Kessel gluckste, machte die Tür zu und fragte: "Woher der Sinneswandel?"
Saskia zuckte mit den Schultern. "Nicht sicher. Aber … aber das Dorf, in dem wir vor drei Tagen waren … normale Familien, die ein normales Leben führten." Sie wandte sich ab und fuhr mit erstickter Stimme fort: "Und dann kommen Reichsdämonen und ein Monster, und alle sterben. Und schreien. Gott, die Schreie …"
Sie schüttelte den Kopf, und obwohl ihr Blick abgewandt war, wusste Kessel, dass sie mit den Tränen kämpfte.
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Ich weiß. Was auch immer dieses Monster war … es war schrecklich. Aber wir tun etwas dagegen. Wir machen einen Unterschied, und wenn es nur ein kleiner ist."
Saskia wandte sich nickend um. "Ich weiß. Danke."
Kessel sah ihr in die Augen. "Wenn du dich entspannen willst, meine Minibar steht dir offen."
Saskia lachte. "Du hast eine Minibar?"
Kessel nickte. "Du nicht?"
"Nein", Saskia biss sich auf die Unterlippe, "aber … wenn du dich entspannen willst, ich habe Kondome."

Ambroszky Stamek stand auf dem Balkon seiner Wohnung, steckte sich eine Zigarette in den Mund, und zündete sich diese an.
"Es ist riskant, hier aufzutauchen", flüsterte er aus einem Mundwinkel, die Zigarette fest im anderen eingklemmt.
"Solange die Zigarette brennt, bin ich vor fremden Augen geschützt. Einfacher Illusionszauber", erwiderte die Frau, die hinter Ambrosz stand.
Dieser gluckste. "Jetzt verzauberst du schon meine Zigaretten … wozu der Aufwand?", fragte er, ohne sich umzudrehen.
"Wenn die Foundation dich tatsächlich beobachtet, was bei einem relativ neuen Mitarbeiter durchaus möglich ist-"
"Das meinte ich nicht", unterbrach Ambrosz. "Warum bist du hier?"
Die Frau seufzte. "Ist es wahr? Du bist ihm begegnet?"
Ambrosz nickte.
"Hast du dir anmerken lassen, dass du den Mann mit dem Flanierstock erkannt hast?"
"Natürlich nicht." Ambrosz war beinahe beleidigt von dieser Frage. "Obwohl ich ihn am liebsten auf der Stelle getötet hätte."
Er drehte sich um, lehnte sich rücklings ans Balkongeländer, und sah durch die Balkontür in Richtung seines Fernsehers.
"Ich hätte es gekonnt, weißt du."
Die Frau schüttelte den Kopf. "Du hättest es gekonnt? Wir verstehen nur wenig von der Magie, die dieser Mann benutzt."
"Ich verstehe einiges davon", erwiderte Ambrosz, "aber das hab' ich nicht gemeint."
Obwohl er die Frau nicht ansah, wusste Ambrosz, dass sie einen verständnisvollen Blick aufsetzte. "Oh. Das glaube ich dir." Sie schüttelte den Kopf. "Aber das ist nicht von Bedeutung. Deine Anweisungen sind klar: Beobachten, berichten, assisstieren soweit es dem Erhalt deiner Tarnung dienlich ist. Aber unter keinen Umständen deine Tarnung gefährden."
Ambrosz nickte. "Ich weiß. Aber wenn sie es wüssten …"
"Dass du ein Spion bist?"
"Nein." Ambrosz schüttelte langsam den Kopf. "Wenn sie wüssten, dass der Mann mit dem Flanierstock in Wahrheit Herr Rass ist …"
Die Frau zuckte mit den Schultern. "Dann könnten Sie ihn vielleicht aufhalten. Oder sie würden Ressourcen für sinnlose Unterfangen opfern und könnten dem Vierten Reich dann nicht effektiv entgegentreten, wenn es darauf ankommt." Sie seufzte. "Es ist schwer, aber dies ist eine komplexe Situation-"
"Ich weiß", unterbrach Ambrosz nickend, "und ich werde mich an die Anweisungen halten."
Die Frau lächelte. "Genau das wollte ich hören."
Und damit war sie verschwunden. Ambrosz dämpfte seine Zigarette aus.

Und der Mann mit dem Flanierstock beobachtete ihn dabei.



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