Ein heller Lichtblitz erfüllt den Raum, als Doktor Albrecht den Schalter umlegt. Zusammen mit seinem sechsköpfigen Team betritt er den zum Operationssaal umfunktionierten Behandlungsraum 03. Mit seiner langsamen, fast schon schlurfenden Gangart sticht der gealterte Doktor aus der Masse seiner Kollegen hervor. Behutsam stellt er seine Ledertasche auf einem Beitisch ab, um anhand der enthaltenen Dokumente die letzten Einzelheiten für den anstehenden Eingriff noch einmal durchzugehen. Vertieft in eine tomographische Aufnahme des Schädels schenkt er seinen Kollegen keine Beachtung, als diese nun eine Person auf einem Krankenbett herein schieben.
Behutsam heben zwei Mitarbeiter des Teams die Person auf den Operationstisch. Die Stille des OP3 wird nur durch das Summen der Luftversorgung und das sanfte Klappern der gerade präparierten Werkzeuge gestört. Eine gewisse Spannung liegt in der Luft. Schließlich ist der anstehende Eingriff das Resultat jahrelanger Forschung.
"Herr Rohleder, die Werte bitte." Die Anästhesistin, Frau Doktor Durand, wendet ihren Blick zu einem der Assistenten. Dieser erwidert lediglich ein Nicken, während seine Augen auf einen nahestehenden Bildschirm wandern.
„62 die Minute, Sauerstoffsättigung von 97, 126 zu 94 Torr."
„Gut." Die Anästhesistin schenkt dem Assistenten ein kurzes Lächeln, bevor sie sich mit ernster Miene zu dem am Rand des Raumes stehenden Doktor Albrecht dreht.
„Herr Doktor, die Werte sind im grünen Bereich. Alles ist wie gewünscht vorbereitet."
Ohne die Anästhesistin eines Blickes zu würdigen, erhebt Albrecht seine Stimme:
„Hoffmann, mein Werkzeug. Wir fangen an."
Langsam legt der Doktor die Aufnahmen zur Seite und nimmt als Letzter seine Position am Operationstisch ein. Während eine Palette an medizinischen Werkzeugen vor ihm liegt, mustert der Doktor seinen Patienten. D-0749 mag seiner Haftstrafe entkommen sein, aber zu welchem Preis?
Auf dem Kopf des achtundzwanzigjährigen, südländischen Patienten finden sich eine Reihe von Markierungen und medizinischen Beschriftungen, welche nur durch mehrere, mit Kabeln verbundene, Metallplättchen überschattet werden.
„Meine Herrschaften, werte Damen…" Doktor Albrecht beginnt mit ernster und tiefer Stimme sich an sein Team zu wenden: „Ich erwarte von Ihnen ein tadelloses Verhalten bei diesem Eingriff. Ich habe Sie nicht ohne Grund für diesen Eingriff zusammengestellt, also machen Sie bloß keine Fehler."
Ein leises Surren, gefolgt von dem Geräusch des durchtrennten Kopfhautgewebes, leiten das lang geplante Prozedere ein. Mit geschickten Griffen legen die Assistenten die losen Hautfetzen nach außen, wo sie diese behutsam festklammern. Ohne sie zu beachten arbeitet sich der Doktor mit präzisen Bewegungen weiter am Os Ossa parietalia, auch als Scheitelbein bekannt, vor. Das austretende Blut erschwert es , die auf den Millimeter genauen Markierungen zu treffen.
Die Zeit verstreicht, bis schließlich Doktor Albrecht die kleine Schädelkreissäge zur Seite legt und seine Rechte in Richtung eines Assistenten offen hinstreckt „Co2 Schneider… wird's bald!"
Ohne zu zögern reicht ihm dieser ein stiftartiges, silberfarbenes Werkzeug.
Es benötigt einige weitere Minuten, bis Albrecht sich schließlich durch den Schädelknochen gebohrt hat. Auf ein Handzeichen der Anästhesistin verliest Herr Hoffmann erneut verschiedenste Werte. Nachdem dieser seinen Satz beendet hat, wandern die Blicke erwartungsvoll zu Doktor Albrecht. Vollständig auf die kleine Schädelöffnung des Patienten fixiert, spricht Albrecht mit monotoner Stimme: „Wir fahren fort. Wildberg, C31-2."
Einer der Assistenten dreht dem Operationstisch den Rücken zu. Wenige Augenblicke später stellt er einen kleinen, schwarzen Koffer auf dem Beitisch neben dem Doktor ab. Behutsam öffnet Frau Wildberg den mit Schaumstoff ausgekleideten Koffer und reicht mit ihrer linken Hand dem Doktor vorsichtig ein Beutelchen aus silberner Folie. Während diese das enthaltene Implantat mit einer Pinzette entnimmt, schiebt einer der Assistenten einen Wagen mit Bildschirm direkt neben den Doktor. Nach ein paar weiteren Einstellungen wendet sich dieser wieder seinem Team zu.
„Doktor Durand, das Benzospräparat."
Über eine Kanüle am rechten Handrücken verabreicht die Anästhesistin dem Patienten eine Flüssigkeit. Während die Infusion in den Blutkreislauf von D-0749 eindringt, zeichnet sich auf dem Gesicht des üblicherweise selbstbewussten Doktor Albrechts Besorgnis ab.
„98,59%," murmelt Albrecht vor sich hin. Das Gehirn ist zum Schweigen gebracht, jedenfalls 1,41% davon.
Vor den dem inneren Auge des Doktors laufen die Tierversuche der letzten Monate ab. Nicht selten endeten zunächst vielversprechende Versuche in unaufhaltbaren Hirnblutungen. Das verabreichte Präparat senkt die Übertragungsrate der Synapsen genug, um das Abstoßverhalten bei der Einsetzung des ersten Implantates zu unterdrücken. Doch das Zeitfenster ist begrenzt. Nach einiger Zeit wird das Gehirn die Betablocker abbauen, bis dahin müssen alle drei Implantate funktionstüchtig eingesetzt worden sein.
Wieder auf das hier und jetzt fokussiert setzt Doktor Albrecht mit Hilfe der Sonde das knapp zwei Millimeter kleine Implantat in das Gewebe des somatosensorischen Cortex ein. Ein schrilles Piepen eines der umstehenden Überwachungsgeräte signalisiert den Erfolg. Erleichtert atmet Albrecht auf. Dann setzt der Doktor wenige Zentimeter zur zweiten Bohrung an, während einer der Assistenten das Bohrloch versiegelt. Bereits eingearbeitet, dauert die zweite Bohrung nur wenige Minuten, was ohne Zwischenfälle verläuft.
Als endlich der Bohrer verstummt, greift Frau Wildberg unaufgefordert zu einem weiteren Koffer, welcher die zweite Komponente für die Operation beinhaltet. Ein Murmeln erfüllt den Raum, als Doktor Durand sich zu der ratlosen Assistentin gesellt. Diese hört Doktor Albrecht:
„C31-3, Wildberg." Albrecht blickt mit ernster Miene in das Gesicht der Kollegin. Mit zitternder Stimme antwortet Frau Wildberg: „Herr Doktor, die isolierende Verbundschicht…"
„Das Implantat, Frau Wildberg." "… sie ist eingerissen, Herr Doktor."
Albrecht klappt seine Mikroskopbrille mit einer raschen Bewegung hoch:
„Habe ich Sie nach Ihrer Meinung gefragt? Wir stehen unter Zeitdruck, ich habe nicht die Zeit…"
Noch bevor er seinen Satz beenden kann, wird er von Dr. Durand unterbrochen.
"Bei allem Respekt Herr Doktor, aber eine beschädigte Verbundsschicht dieser Klasse ist ein schwerwiegendes Sicherheitsrisiko. Wir können unmöglich sagen, welchen Stimuli das Überwachungsimplantat dadurch während des Transportes ausgesetzt war.“
„Seit wann sind Sie Fachärztin für Neurochirurgie? Lassen Sie das gefälligst meine Sorge sein, wir stehen so kurz vor dem Durchbruch!"
"Sie wissen besser als ich, wie sensibel die Komponente ist. Sollte sie die neuronale Aktivität einer Anomalie erfasst haben und wiedergeben, wären die Folgen möglicherweise katastrophal. Bitte, Herr Doktor, dass können Sie nicht …"
"Ich entscheide was ich kann oder nicht. Ich werde meine Forschung nicht wegen ihrer wilden Spekulationen um Wochen zurückwerfen."
Eine plötzliche Stille unterbricht das Wortgefecht, während sich die beiden Ärzte gegenseitig in die Augen starren. Was erlaubt sich dieser Doktor eigentlich? Empört über den Tonfall ihres Kollegen wägt die pflichtbewusste Anästhesistin ab, ob sie das Machtwort des Doktors einfach so hinnehmen soll. Mit einem entnervten Seufzer wendet sie sich schließlich in Richtung eines Assistenten und spricht:
"Herr Hoffmann, überwachen Sie weiterhin die Werte. Jede anormale Abweichung sofort melden. Frau Wildberg, bitte reichen Sie Doktor Albrecht das Implantat."
Sichtbar aus der Ruhe gebracht, nimmt Albrecht das eingerissene Beutelchen entgegen. Unter deutlich reduziertem Tempo, begleitet von einem nervösen Zittern, setzt der Doktor schließlich erfolgreich das zweite Implantat ein. Das gleiche schrille Piepen ertönt, worauf Albrecht der Anästhesistin hämisch zugrinst:
„Sie sehen, Frau Doktor, es gibt keinen Grund zur Sorge. Ich weiß, was ich tue."
Albrecht wendet sich nun zu dem Assistenten zu seiner Rechten.
"Mit Knochenersatzpräparat versiegeln und die Kopfhaut zunähen. Wir sind hier …"
Ein anhaltender, tiefer Piepton, gefolgt von dem Aufleuchten einer kleinen, roten Diode, unterbricht den Satz des Doktors.
„Doktor Durand, die Noradrenalinwerte steigen exponentiell, der Puls …"
Das Geräusch wird nun durch das schnelle Piepen des EKGs, der Vitalüberwachung, überdeckt.
Gefasst weist Doktor Durand seine Mitarbeiter an:
„Die Anästhesie lässt nach, sofort 2,7 Milliliter Sufentanil, intravenös. Sofort!"
„Das ist jetzt auf ihrem Mist gewachsen!" fügt Albrecht hinzu, während er mit dem Zeigefinger in Richtung der Anästhesistin zeigt.
„Ihre Kommentare sind jetzt wirklich nicht hilfreich!"
„Ganz davon abgesehen, ist die erhöhte Noradrenalinproduktion wohl eher das Resultat Ihres Implantates" erwidert Durand hastig.
„Jetzt fangen Sie schon wieder damit an?"
Dr. Durand hält für einen Moment inne. Wut kocht in ihr hoch, als sie sich erneut mit dem respektlosen Tonfall Albrechts konfrontiert sieht. Mit ernster Miene blickt sie auf Albrecht, und erwidert in verschärftem Ton:
„Ja ich fange damit an! Sie gefährden durch Ihre Sturheit die gesamte Operation! Und glauben Sie mir, ich werde das ihren Vorgesetzten melden. Eine so eine rücksichtslose Arbeitsweise habe ich in all meinen Jahren als Anästhesistin noch nie erlebt!"
Die laute Stimme eines weiteren Assistenten lenkt die Aufmerksamkeit der angespannten Doktoren auf ihn: „Das EEG spielt verrückt! Diese Werte ergeben keinen Sinn."
Hastig dreht Albrecht einen der nahestehenden Monitore zu sich hin. Schockiert starrt er auf die tanzenden Graphen der Hirnaktivitätsüberwachung.
"Das alles ergibt keinen Sinn …" murmelt Albrecht mit besorgter Stimme.
"Herr Doktor! Die Hand des Patienten!"
Ein Assistent zeigt auf den Zeigefinger von D-0749, welcher sich zitternd hin und her bewegt. Entsetzt blickt Albrecht zu Dr. Durand auf: "Warum schlägt die Narkose nicht an?!"
Sichtbar unter Stress stehend sammelt die Anästhesistin ihre Gedanken, bevor sie mit ratloser Stimme antwortet: „Ich weiß es nicht, möglicherweise eine Wechselwirkung des Sufentanils auf die gereizten Adrenozeptoren. Sie müssen diese Chips sofort da rausholen!"
"Das kann ich doch nicht ohne vernünftige Anästhesie. Machen Sie gefälligst was!"
„Herr Doktor!" Hoffmann zeigt mit ernster Miene auf einen Monitor: "Die Adrenalinkonzentration hat den Höchstwert überschritten!"
„Betablocker per iv. verabreichen. SOFORT!"
Während der Assistent mit Mühe die Spitze präpariert, beginnt der Körper des Patienten auf dem OP-Tisch zu zittern. Erst die Hand, dann der Arm, nach wenigen Sekunden der ganze Körper.
Hektisch setzt der Assistent die Spritze zur Injektion an.
Die Nadel befindet sich bereits in der Armvene des Patienten, als sich infolge eines grellen Lichtblitzes der ganze Raum in Finsternis hüllt.
„Dann tun Sie gefällig was, hier muss doch irgendwo der Schalter für die Sekundärbeleuchtung sein!” ruft Albrecht seinen Mitarbeitern zu, als er das schwache Licht seiner Mikroskopbrille einschaltet und sich in Richtung der Wand dreht, um nach dem Lichtschalter zu suchen.
Plötzlich erfüllt ein lauter Schrei den Raum. Erschreckt dreht sich Dr. Albrecht um, doch kann er zu seinem Entsetzen nur die Umrisse Hoffmanns am Boden erkennen. Blutverschmiert liegt der Assistent am Boden, während ein spitzer Stahldorn in seiner Schläfe streckt. Ein lautes Krachen ertönt, als wie aus dem Nichts eines der Monitorgeräte durch den Raum geworfen wird, und die unvorbereitete Dr. Durand am Kopf trifft. Die Augen der Mitarbeiter haben sich zwischenzeitlich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie starren in die Ecke des Raumes.
D-0749 hat sämtliche Sensoren und Kanülen abgetrennt und steht nun aufrecht, mit Blut bespitzt. Zitternd und schluchzend reißt es die Kabel der medizinischen Gerätschaften auseinander. Zu seinen Füßen liegt regungslos die Anästhesistin Dr. Durand. Während Albrecht unter Schock stehend das Geschehen beobachtet, eilt Frau Wildberg zu ihrer Kollegin, um ihr aufzuhelfen. Als sich diese jedoch nähert, stößt der Patient einen schmerzerfüllten Schrei aus, und wirft die hilfsbereite Assistentin zu Boden und umgreift mit beiden Händen ihren Hals. Panisch, mit beiden Händen des Patienten ihren Hals umklammernd, schnappt Wildberg nach Luft.
„Helfen Sie ihr doch!"
Während die zwei verbleibenden Assistenten zu ihrer hilflosen Kollegin eilen, greift Albrecht zögerlich die naheliegende Knochenkreissäge. Erfolglos schlagen, reißen und treten die Mediziner immer wieder auf ihren Patienten ein, in der Hoffnung, ihre Kollegin aus dem tödlichen Griff dieses Monsters zu befreien.
„Scheiße, verdammte Scheiße, das bringt nichts! Der Kerl ist vollgepumpt mit Adrenalin!"
„Helfen Sie uns, verdammt nochmal!"
Dr. Albrecht steht wie zu Stein erstarrt da, starrt auf den am Boden liegenden Herrn Hoffmann. Der Anblick des entstellten Gesichts erfüllt den Doktor mit Todesangst.
Ein metallisches Klirren ertönt, als er, von Furcht übermannt, die Säge zu Boden fallen lässt.
Mit einem stumpfen, wilden Schlag stößt der Patient einen durch das Geräusch abgelenkten Assistenten weg.
Panisch stürmt Albrecht, mit der Hilfe seiner leuchtenden Mikroskopbrille aus dem vollkommen dunklen Operationssaal. Mit Mühe bewegt sich der ältere Doktor durch das angrenzende Wartezimmer in den Flur der medizinischen Abteilung, ehe er erschöpft zu Boden sinkt. Seine Sicht verschwimmt und das Sichtfeld verengt sich zu einem undefinierbaren Schwarz. Als die Tür plötzlich aufgeschlagen wird, blickt Albrecht mit letzter Kraft in Richtung mehrerer Sicherheitsbeamter, ehe er sein Bewusstsein verliert.