Befehlslast

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Befehlslast

Nora krallte sich in das mit Leder bezogene schwarze Lastkraftwagenlenkrad. Der Motor unter ihrer Fahrerkabine donnerte und ließ ihren gefederten Sitz fast schon comicartig auf und ab wippen. Zum Lachen war ihr aber ganz und gar nicht. Neben ihr war schließlich gerade jemand verreckt. Nicht nur irgendjemand. Ihr jahrelanger Kollege Henning Werthers; Kopfschuss durch die Frontscheibe. Sie hatten eigentlich nie wirklich mit so einer Situation gerechnet. Klar, es gab Briefings und Trainingseinheiten, die genau für solche Fälle ausgelegt waren, aber … In Realität bei einem Transport von Standort zu Standort überfallen zu werden? Keiner von beiden hatte das bis vor gut zwanzig Minuten wirklich ernst genommen. Jetzt war Henning tot und Nora musste dieses beschissene Teil irgendwie in Sicherheit bringen.
Sie riss das Steuer herum und schaltete einen Gang tiefer, als sie die Ausfahrt zu einer Autobahnraststätte aus dem Augenwinkel wahrnahm und fast verpasste. Seit sie vor den Wagen hinter dem Laster floh, hatte ihre Sicht eine Art Tunnelblick bekommen, aber sie erinnerte sich an das Protokoll, welches in solchen Situationen anzuwenden war - so weit wie möglich weg von zivilen Zielen, dann auf die angeforderte Sicherungstruppe warten. Sie bremste kaum und betete zum Himmel, dass keine Person gerade zu Fuß auf dem Rastplatz unterwegs war. Sie würde nicht bremsen können und die Arschlöcher hinter ihr würden sicherlich nicht vor Zivilisten Halt machen. Andernfalls hätten sie den Transporter nicht auf der Autobahn versucht zu überfallen.
Sie sah die bunten Farben von Werbeschildern, Autos und Restaurants in der einsetzenden Dunkelheit an ihr vorbeifliegen, als sie auf die von ihrem Scheinwerfer beleuchteten Schranken zufuhr, welche sonst dem Personal und Zulieferern der Raststätte vorbehalten waren. Die Schotterpiste dahinter war nicht für diese Geschwindigkeit ausgelegt, aber es gab keinen anderen Weg aus dieser Situation. Es schepperte, als das Plastik den Raum für den Lastkraftwagen freigab, aber sonst merkte sie kaum, dass sie die Schranken passiert war. Der Weg dahinter war schmal und führte direkt an einem Waldstück vorbei, Bäume streiften das Fenster rechts von ihr, während das Bankett links von ihr den Reifen fast abrutschen ließ. Sie fasste das Rad mit beiden Händen so fest wie ihr möglich war und versuchte den Transporter unter Kontrolle zu halten. Sie wusste nicht, was sie geladen hatten, dass das Leben ihres Kollegen und mehr wert zu sein schien. Waffen? Forschungsmaterial? Stinknormale Versorgungsmaterialien? Die Paletten, die sie vor einer Weile noch kontrolliert hatte, sahen sehr unscheinbar aus. Scheinbar waren die Angreifer da jedoch anderer Meinung. Ein Blick in die diversen Spiegel ließ sie wissen, dass das Pack noch hinter ihnen her war, wenn auch mit etwas Abstand. Sie erwarteten wahrscheinlich, dass sie die Kontrolle verlieren und den Wagen kippen lassen würde. Da haben sie sich aber mal geschnitten. Nora war so einiges, aber sicherlich keine Stümperin!
Erneut gab sie einen Not-Funkspruch ab und ihr wurde versichert, dass Hilfe unterwegs sei. Sie wollte noch etwas erwidern, als sich der Pfad vor ihr im Lichtkegel endlich verbreiterte und entweder rechts weiterführte - sie nahm an zur nächsten Ortschaft - oder geradeaus in ein offeneres Gelände verlief. So sehr sie auch in die vermeintliche Sicherheit der Zivilisation fliehen wollte, sagte ihr Pflichtgefühl, dass sie geradeaus zu fahren hatte. Etwas in ihr hatte ohnehin bereits festgestellt, dass sie nicht lebend aus dieser Situation kommen würde. Aber wenn, dann nahm sie noch ein paar der Wichser mit sich ins Grab. Passend zu dem Gedanken hörte sie mehrmals etwas krachen und sie fürchtete, dass das Feuer auf sie eröffnet worden war. Mit einem Blick auf den langsam von Asphaltschotter zu wassergebundener Tragschicht wechselnden Pfad vor ihr geheftet, griff sie mit der rechten Hand an die Hüfte ihres ehemaligen Kollegen, der sich seltsam anfühlte. Natürlich, er war ja auch tot. Sie ertastete die Dienstwaffe Hennings und ließ die Verschlüsse aufschnappen, die diese an seiner Seite fixiert gehalten hatten, dann platzierte sie die Waffe auf ihrem Schoß und machte sich bereit. Der Anhänger hatte eine Fernbetätigungseinrichtung für die Bolzenkupplungsverbindung mit dem Fahrerhaus, die genau für solche Notfälle gedacht war und welche sie nun von der Plastikkappe befreite, die unvorsichtiges Benutzen des Tasters verhindern sollte. Sie atmete ein letztes Mal sehr tief los, achtete auf die richtige Geschwindigkeit, schlug mit der Faust gegen den Notfall-Taster und der Bolzen flog mit einem selbst in der Kabine deutlich hörbaren "Peng" aus der Kupplung, es krachte laut und Nora wähnte sich mit einem Blick in die Spiegel kurz endlich wieder in Sicherheit. Dann sah sie jedoch, dass sie zu spät gewesen war. Ein gepanzerter Wagen hatte zu ihr aufgeholt und das Krachen, was sie vorhin gehört hatte, war eine Art Bolzen mit Kralle gewesen, der sich in das Gestänge des Zugwagens gebohrt hatte. Sie sah, wie der Anhänger taumelte, nach vorn kippte und sich dann halb überschlug, als die Zugdeichsel bei der Geschwindigkeit in den Boden gerammt wurde und sich im Boden an etwas verkeilte. Der Panzerwagen blieb unbeeindruckt, entfernte sich aber plötzlich von ihr und sie wusste genau, warum. Das dicke Kabel der Seilwinde, mit dem der Panzerwagen mit ihrer Kabine verbunden war, spannte sich und sie fühlte, wie sie mitsamt des Zugwagens etwas ähnliches durchmachte, wie der Anhänger zuvor. Und es tat wirklich arschweh.


Kalt war es geworden. Kalt, still und dunkel. Keine unnatürlichen Schreie, kein Gefechtslärm mehr - nur die üblichen Geräusche der Natur der einkehrenden Nacht um sie und das entfernte Hintergrundrauschen von Zivilisation. Leise, entspannte Gespräche und gelöstes Scherzen hatte sich in der Gruppe breit gemacht. Sie hatten die Lichter an den zwei Panzerwagen angeschaltet, um die Ausrüstung zu sichern und die Mission gemeinsam abzuschließen. Falco, welcher sich mittlerweile von seiner modifizierten FN Minimi mit dem scherzhaften Kosenamen Liebe und dem störenden Helm befreit hatte, ließ sich von Pierre eine Zigarette anzünden. Er lehnte sich an den Wagen, um diese in Ruhe zu paffen und den Einsatz Revue passieren zu lassen. Seine Ohren klingelten noch etwas von dem Schrei des Totengeistes, aber sein Herz und sein Gemüt hatten sich wieder deutlich beruhigt. Pierre, der hünenhafte, alteingesessene Truppensanitäter, tat es ihm gleich und zufrieden teilte der Hauptmann der Seher der versammelten Truppe mit: "Das ist wirklich glatt gelaufen, Kinder, gute Arbeit. Wenn ihr so weiter macht, werdet ihr noch ein richtiges Team." Beim letzten Wort sah er insbesondere zu dem hochgewachsenen Johan, welcher dem Blick, ohne irgendeine Emotion zu zeigen, standhielt. Falco ließ seine Augen auf die deutlich kleinere Lovisa wandern und seufzte. "Weniger gung ho das nächste Mal. Erinnerst du dich an das mentale Bild der Glaskanone? Vergiss' das nicht", sagte er mit einem Blick auf ihre Wange, die nach einem Streifschuss durch die Waffe eines der Okkultisten verletzt und durch Pierre verarztet worden war.
Ein weiterer, oberflächlicher Zug an der Kippe und das Auspaffen des Rauches, dann fügte Falco abschließend an alle gerichtet hinzu: "Die erste Runde nachher geht auf mich, sucht euch aus, was ih-" Er kam nicht weiter, denn das charakteristische Knacken des Funkgeräts an seiner Seite, welches mit dem Hauptfunk verbunden war, unterbrach ihn.

"Auge, hier Command. Kommen."

Mit einem Stirnrunzeln reichte er seine Zigarette an Pierre weiter und nahm das Gerät hoch, um Stephan Faust, dem Leiter der Mission, zu antworten. Eigentlich hatte Falco schon direkt nach dem Erfüllen des Einsatzzieles gemeldet, dass alles erfolgreich und ohne Probleme verlaufen war. Normalerweise hielt sich der Kontakt zwischen ihnen in Grenzen, solange es keine Probleme oder einen Austausch von relevanten Informationen gab. Er bestätigte kurz die Signalstärke und gab die Identifikation durch, dann antwortete er, während er mit der freien Hand seiner Truppe deutete, weiterzumachen.

"Hier Auge 1. Kommen. Command, was gibt es? Kommt das Aufräumteam?"

"Auge, wir brauchen ein Notfallteam, ein Transporter ist überfallen worden. Ihr seid am dichtesten an den Koordinaten."

Falco stutze. Das war ungewöhnlich. Er blickte im Schutz seiner Sonnenbrille zu seinen Soldaten und stellte fest, dass alle Augen auf ihm lagen, statt weiter mit den Aufräumarbeiten beschäftigt zu sein. Er spürte förmlich, wie die eben fast verpuffte Anspannung mit einem Schlag beinahe vollständig zurückgekehrt war. Ein Überfall auf einen Transporter? Sie hatten weder die entsprechende Ausrüstung noch genügend Munition für menschliche Ziele bei sich, um mehr als eine Handvoll Gegner effizient ausschalten zu können. Hinzu kam, dass das Beta-Team mit ihm zusammen nur aus sechs Einsatzkräften - verstorbene und somit körperlose Begleiter nicht mit eingerechnet - bestand. Er hatte keine weiteren Soldaten hinzuziehen wollen, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf die Gruppe zu lenken, da sie doch sehr nah an zivilem Gebiet agieren mussten.

"Command, wir sind dafür nicht ausgerüstet."

"Auge, es sind Zivilisten in Gefahr, die nächste Einheit ist eine halbe Stunde entfernt."

Er seufzte und nahm den Finger für einen Moment von dem Funkgerät. Falco gefiel das nicht. Ein Blick in die Runde des Beta-Teams zeigte klar, dass sie alle erschöpft waren und Standort-DE20 war mindestens noch zwei Stunden Fahrt von ihrem aktuellen Standort entfernt. Das würde eine längere Nacht, als sie eingangs angenommen hatten. Unruhe machte sich unter den Soldaten breit und er wusste, dass er etwas sagen musste. Er bestätigte Command und erbat die Durchgabe der Koordinaten an die Panzerwagen. Er stieß sich von der Wanne des Wagens ab, an welche er sich gelehnt hatte, begradigte seinen Rücken und richtete sich dann erneut an die Truppe, nun aber bewusst mit dem Ton eines Hauptmannes in der Stimme.

"Frey, Poussin, mit mir in den Schneewolf 1; Jensen, Matussek, Lund, ihr nehmt Schneewolf 2. Frey und ich werden die Situation überprüfen; Leutnant Jensen, euer Team hält uns den Rücken frei. Denkt an eure Wendejacken, wir kreuzen ziviles Gebiet."

Ein Hauch Stolz kam in ihm auf, als die Gruppe, statt erschöpft zu wirken, mit der üblichen Energie bestätigte, sich sofort aufteilte und die restliche Ausrüstung zügig verstaute. Er hoffte, dass sie ihre Energien auch weiterhin gut einzuschätzen wussten und gab zum Command durch, dass sie einsatzbereit waren. Faust - Command - würde sie schon nicht in ein offenes Messer laufen lassen. Dafür hatte der Mann zu viel Erfahrung und wusste, wie er die Teams einsetzen konnte. Falco tat es der Gruppe gleich und bestieg dann den zweiten Sitz im Fennek-ähnlichen Panzerwagen. Er ging im Kopf ein weiteres Mal die Ausrüstung durch, die ihnen noch zur Verfügung stand, während Pierre den Wagen losfahren ließ.


Johan schnaubte unterdrückt, als eine größere Unebenheit im Boden den Panzerwagen wippen ließ und sein Schädel seitlich gegen die gepolsterte Kopfstütze prallte. Pierre sah von dem vorderen Sitz durch einen der Spiegel zu ihm nach hinten und lachte kurz, bevor er halblaut rief: "Hab' dir doch gesagt, du sollst 'en Helm für das hübsche Köpfchen aufsetzen."
Falco schien zu beschäftigt mit den Monitoren vor sich zu sein, um ebenfalls einen Kommentar zu Johans Schicksal auf dem einzigen, kaum beleuchteten hinteren Sitz des dreisitzigen Schneewolfes abzugeben. Johan zischte eine Antwort zurück an den fahrenden Sanitäter, dann lehnte er sich wieder an die unruhige Kopfstütze. Seine Gedanken kreisten seither darum, wie sehr er es hasste, mit ausgerechnet diesen beiden in einem Wagen eingesperrt zu sein. Wobei, im anderen Schneewolf wäre er nicht besser aufgehoben, zwischen Plastikfresse und Bartwichse. Oder Plastikfresse und Lovisa. Bei dem kurzen Gedanken an diese kam gleich ein ganzer Schwall an Eindrücken mit, die er gern wieder verdrängen wollte, um konzentriert zu bleiben. Was hatte ihn bloß geritten, etwas mit ihr anzufangen? Also, außer ihr, natürlich. Als hätte sie seine Gedanken irgendwie mitgehört, schallte ihr endloses Gefasel wieder über's Komm in sein Ohr und er beeilte sich, dieses für den Moment abzuschalten. Fast schon wünschte er sich Austin und Peterson zurück. Die waren zumindest normal - und leise. Anderseits zog er deutlich vor, mit dieser Auswahl auf's Feld gehen zu müssen, als wieder Singh zu ertragen.

Sie erreichten bereits nach ein paar Minuten den Zielbereich, in dem der Lastkraftwagen überfallen worden sein sollte. Auf dem Weg hatten sie einen leichten Umweg durch das abwechselnd mal waldige, mal offen-felsige Gebiet genommen, um der Autobahn nicht zu nahe zu kommen, die in Richtung Süden verlief. Sie kreuzten einen Schotterpfad und die Scheinwerfer des Panzerwagens zerschnitten die Dunkelheit vor diesem gerade genug, um eine Spurrille auf dem Bankett zu beleuchten, die eindeutig von einem viel zu schnellen Transporter stammen musste. Zumindest war das, was Falco und Pierre dem blonden Soldaten im hinteren Bereich des Wagens mitteilten. Er selbst konnte das Geschehen nur durch den kleineren Monitor der Schiebekonsole des Wagens verfolgen, dessen Bild einen desaturierten Kamerafeed von knapp oberhalb der Reifen übertrug. Johan musterte die Rillen und stellte fest, dass er eine weitere, tiefere Spur ausmachen konnte, jedoch war schwer zu sagen, ob es sich um ein Fahrzeug wie das ihre handelte, oder ob es eine alte Traktorspur war. Der Winkel, den er auf die unebenen Dreckhaufen hatte, half nicht unbedingt bei der Sondierung. Was aber deutlich war, waren zwei bis drei offensichtliche Motorradspuren, die ebenfalls dem Lastkraftwagen gefolgt waren. Johan überlegte, ob es sinnvoll war, die BAA, die Beobachtungs- und Aufklärungseinheit des Wagens, zu benutzen, um die Gegend abzusuchen, hörte aber dann, wie Falco und Wolfgang, welcher den anderen Schneewolf lenkte, sich kurz per Funk über den Fund austauschten und sich entschieden, keine Zeit zu vergeuden. Sie fuhren weiter vorweg zu einem sich öffnenden Feld, auf dem selbst bei der Dunkelheit noch deutlich der Umriss des kastenförmigen Gefährts auszumachen war, das wie ein gestrandeter Wal auf der Seite lag. Die Fahrerkabine lag etwas abseits dazu ebenfalls auf der Seite. Diverse Reifenspuren waren überall auf der Fläche verteilt und verdeutlichten das Schicksal des Transporters.
Falco ließ die Panzerwagen so langsam auf das Feld rollen, wie es ihnen möglich war. Während Pierre den Wagen ein Stück rechts neben dem Fahrzeugkadaver abstellte, flankierte Wolfgang die linke Seite und richtete die Scheinwerfer vom Schneewolf 2 auf die Szene. Johan fackelte nicht lang, machte sich los und griff nach seiner Waffe, die er für die Fahrt hatte sichern müssen. Durch die Handschuhe spürte er die eingravierten Unebenheiten in der Oberfläche, die eleganten Runen, die die Waffe so vertraut machten, in seinem Griff. Unbewusst fuhren seine Finger die Linien wiederholt nach, während er mit seiner freien Hand den Sprachkanal seines Komms - in der Hoffnung, dass Lovisa sich zurückhalten würde - wieder aktivierte. Er duckte sich durch den Wagen und öffnete die Seitentür des gepanzerten Fahrzeuges, um aus dem Wagen an die kalte, frische Luft zu springen. Sein Hauptmann fluchte leise hinter ihm, tat es dem Leutnant dann aber gleich.
Sofort bildeten sich beim Atmen kleine Wölkchen vor dem Soldaten, als dieser endlich die Umgebung mit eigenen Augen sehen konnte, statt auf den kleinen Monitor starren zu müssen. Er hörte das leise Rauschen von Fahrzeugen auf der Autobahn in der Ferne, ansonsten war es verdammt ruhig um sie. Nachdem Falco das weitere Vorgehen angekündigt und ein Zeichen mit der behandschuhten Hand an Johan gegeben hatte, ging dieser langsam an dem hinteren Ende des Lastkraftwagens vorbei, während Falco die andere Seite sicherte. Der blonde Soldat sah kurz zum Schneewolf 2 rüber, dessen Scheinwerfer weiter den Platz auf mögliche Gefahren absuchten. Henrik hatte die obere Öffnung aufgemacht und sich über die Kante gelehnt, was definitiv nicht bequem sein konnte, wie Johan feststellte, aber scheinbar machte es dem Scharfschützen nicht viel aus. Wieder seine Aufmerksamkeit auf den Zielort gerichtet, bewegte er sich langsam zur Spitze des Anhängers und hielt Ausschau nach möglichen Gegnern in den Schatten, die sich durch die Lichtkegel gebildet hatten. Ans Komm gewandt murmelte er: "Hey, Bane, halt mir den Rücken frei."
"Für dich immer noch Leutnant Bane", lautete Henriks süffisant klingende Antwort und Johans Mundwinkel zuckte. Er setzte an, seiner Anspannung mit einer weiteren Provokation Luft zu machen, aber Falco schaltete sich dazwischen und es wurde deutlich, dass dieser ebenfalls mit seiner angespannten Unruhe kämpfte, um konzentriert zu bleiben. Mit einer Mischung aus leisem Flüstern und deutlichem Nachdruck rief er die beiden über den Sprachkanal zu Räson.

"Konzentration. Flirtet später oder es hat sich mit den Leutnants erledigt. Für euch beide."

"Jawohl", kam es fast sofort von dem Plastikgesicht; kurz darauf rang sich auch Johan ein "Jawohl" ab, wohl wissend, dass er die Situation nicht eskalieren sollte, so schwer es ihm auch gerade fiel.


Bei der Fahrerkabine angekommen, bemerkte Johan, dass zwei Personen scheinbar aus dieser entfernt worden waren. Sein zusätzliches Licht glitt über die Körper und verriet ihm, dass eine Person schon vor der Extraktion tot gewesen sein musste, da diese, im Vergleich zu der weiblichen Person, kein Blut an Wagen und Boden hinterlassen hatte. Die weibliche hingegen … Er ging in die Hocke und betrachtete das an der Luft geronnene Blut, in welchem ein paar traurige Reste Gehirnmasse und Splitter von Knochen, Haut und Haaren dümpelten und mittlerweile festgetrocknet waren. Er folgte der Richtung, aus der er annahm, dass die Kugel gekommen sein musste, mit Blicken und sah, dass die tiefen Spurrillen eines gepanzerten Fahrzeuges in ungefähr derselben Richtung hinter ein paar Bäumen verschwanden. Sein Blick wanderte die Baumlinie entlang und er bemerkte schließlich eine ganz sachte Bewegung knapp oberhalb der Wipfel, welche die Zipfel der Nadelbäume, erleuchtet nur durch einen Hauch Mondlicht, zittern ließ. Eine Drohne. Noch dazu ein Modell, das der, die im Schneewolf untergebracht war, erstaunlich ähnlich war - wenn man von einem seltsamen Graffiti absah, welches er gerade noch so ausmachen konnte. Er erkannte die Form des Bauches, die Machart der Flügel - eine ALADIN-Drohne. Aufklärer. Wenn er es richtig einschätzte, konnte die Kamera der Drohne bisher nur ihn und den Schneewolf hinter ihm gesehen haben. Der Transporter müsste den Blick auf den Rest des Teams verdeckt haben.
Johan ließ seinen Blick betont langsam hinter sich wandern und stellte fest, dass Falco aus demselben Grund ebenfalls keine Sicht auf ihn hatte, da er weiter hinter dem Fahrerhaus die Umgebung untersuchte. Der Soldat wusste aber, dass einer definitiv in seine Richtung sehen würde. Johan deutete, bedacht darauf, dass die Drohne es nicht bemerken konnte, hinter seinem Rücken mit der Hand nach oben und kurz darauf meldete der Scharfschütze über das Komm, dass er sie im Visier hatte. Johan ließ sich von der kurzen, bestätigenden Erleichterung nicht ablenken. Er war sich nicht sicher, ob, wer auch immer die Drohne lenkte, in Hörweite war, aber auf diese Weise würde Falco Bescheid wissen, ohne dass einer der beiden ein Wort wechseln musste. Johan richtete sich langsam auf und achtete insbesondere darauf, dass der Lichtkegel seiner Lampe nicht in die vermeintliche Richtung der Gegner zeigte, während er so unauffällig wie möglich die MP7 von seiner Schulter und in Anschlag nahm. Ein Lichtschein knapp hinter ihm verkündete, dass sein Hauptmann langsam zu ihm stieß und auf ähnlich unscheinbare Weise nicht in Richtung Baumlinie sah, während er seine Waffe bereit hielt.

"Und, Empfangskommitee?"

Der Veteran neben ihm bewegte den Kopf verneinend, dann antwortete er: "Zu wenige. Wir haben sie überrascht. Dachten wahrscheinlich, es kommt so schnell keiner - oder dass wir Polizei sind. Sie werden aber sicherlich nicht mehr lange ausharren, da ist noch Ladung im LKW."
Johan nickte und spürte, wie langsam die Anspannung in ihm wieder zunahm. Alles wirkte betäubend leise. Alles, bis auf seinen Herzschlag und das Rauschen von Blut in seinen Ohren. Gänsehaut breitete sich, trotz der Wärme durch seine Ausrüstung, über seine Arme und den Nacken aus. Falco tippte gegen das Magazin seiner Minimi. Johan folgte seinem Blick und ging im Kopf seine eigene Munition durch. Dann bereitete er sich innerlich vor.

"Jensen, bereit halten. Warte auf mein Kommando."

Es kam anders, als der blonde Elitesoldat sich in dem Moment noch vorzustellen wagte.


Lovisa war erstaunlich still geworden. Für Wolfgang eine fast schon gespenstische Erfahrung. Fast so gespenstisch wie die Momente, in denen sie mit ihrer verstorbenen Schwester sprach.
Bei Henrik war er es gewohnt, dass dieser nur still dasaß und sich höchstens äußerte, um Anweisungen zu geben, egal wie sehr sich Wolfgang auch bemühte, ihn zu animieren. Nun waren jedoch beide verstummt und es war keine angenehme Stille, die sich in dem engen Wagen breit gemacht hatte. Nach einem kurzen Austausch mit dem Hauptmann entschied sich der Scharfschütze, halb durch eine Öffnung im Dach des Panzerwagens zu klettern und sich dort in Position zu legen, um Johan und Falco zu unterstützen, sollte dies nötig werden. Wolfgang hoffte, dass der Fall nicht eintreten würde, aber schon lange vor der ersten Mission, gleich nach seinem Morgenkaffee, hatte er bereits ein komisches Gefühl gehabt - was definitiv nicht an der Plörre selbst gelegen hatte, da war er sich mittlerweile sicher. Seit sich sein maskierter Kollege jedoch in die Öffnung gehängt und nur kurz eine Antwort an Johan gegeben hatte, war es wieder sehr, sehr ruhig geworden. Wolfgang hörte sich selbst atmen, die Anzeigen vor sich leise Summen oder Rauschen und versuchte, den Blick auf die beiden Frontalkämpfer zu behalten, die um den umgekippten Transporter wanderten. Der ehemalige Feuerwerker rutschte unruhig auf dem Fahrersitz umher und ließ den Lichtkegel einen Moment aus den Augen, um sich nach hinten zu wenden und sich zu vergewissern, dass Lovisa und Henrik tatsächlich noch im selben Wagen mit ihm waren. Mit einem kleinen Seufzer stellte er fest, dass die unerträgliche Stille, die ihn zu umgeben schien, nur ein Symptom seiner Anspannung zu sein schien. Lovisa war tatsächlich ruhiger als sonst, aber sie hatte sich von ihrem Platz erhoben und begonnen, die teilweise baumelnden Beine Henriks zu knuffen, bis dieser ihr zu verstehen gab, dass kein Zeitpunkt für ihre Possen war und sie sich schmollend wieder in den Sitz fallen ließ.
Wolfgang wisperte ihr etwas Aufmunterndes zu und erntete ein halbes Lächeln von dem unscheinbar wirkenden Mädchen in der Uniform, von der er wusste, dass ihr Äußeres im starken Kontrast zu dem stand, was sie auf dem Feld vollbrachte. Aber ihre Reserven - und damit die Verbindung zu ihrer Schwester - waren generell schneller aufgebraucht als die der anderen. Sie würde sich gerade in Gefahr bringen, sollte sie ebenfalls in erster Reihe stehen, wie Falco und Johan. Das war ihnen allen klar. Änderte nichts daran, dass sie sich nicht ausführlich darüber beschweren würde, sobald sie konnte.
Das Geräusch von dem Scharfschützen, der sein Gewicht verlagerte und dann ins Komm sprach, erinnerte den Bärtigen daran, sich wieder nach vorn zu wenden und auf seine Teamkameraden aufzupassen.

Johan und Falco standen mittlerweile nebeneinander neben dem LKW, ihre Lichtkegel knapp vor ihnen auf den Boden gerichtet, aber beide scheinbar kampfbereit. Der Hauptmann gab durch, dass auf sein Kommando zu warten war und Wolfgang verstand: Sie hatten Kontakt zum Feind. Oh, kurwa. Es war definitiv nicht die Kaffee-artige Plörre von heute früh, die jetzt in seinem Magen rumorte. Fast wünschte er sich die Banshee von vorhin zurück. Keine Überraschungen, alles geplant, alle fit.
Falco gab dem Scharfschützen einen Befehl, das Ziel auszuschalten, dann wiederholte er, auf weitere Befehle zu warten. Ein dumpfer Knall über ihm ließ ihn wissen, dass Henrik auf etwas geschossen hatte. Kurz darauf bemerkte er ein kleines Aufblitzen eines Umrisses, der nun zwischen den Baumwipfeln verschwand. Wolfgang verstand, dass es sich um eine Drohne gehandelt haben musste. Henrik bewegte sich wieder, ein leiser Fluch war zu hören, dann gab der Scharfschütze durch, wieder bereit zu sein. Dann ging es jedoch plötzlich sehr schnell.
Scheinwerfer brachen durch das Unterholz und die Kommunikation im Sprachkanal nahm zu, aber nicht, wie Wolfgang erwartete. Ganz und gar nicht. Und er war nicht allein damit, wie er feststellte. An den Leutnant in der Öffnung gewandt rief er: "Wir müssen was tun, Henrik!"
Nach einer kurzen Diskussion waren sich die drei einig und Henrik, welcher wieder in den Wagen kletterte, übernahm die Führung, während Wolfgang den Wagen startete und Lovisa anwies, sich zu sichern. Er tätschelte die Steuereinheit des Schneewolfes liebevoll, dann flog der Wagen unter seinem Griff förmlich los, das flaue Gefühl in seinem Magen für den Moment vergessen.


Statt eines Panzerwagens brach nach einem wütenden Getöse des Motors, den man bereits in einiger Entfernung hören konnte, nach ein paar Augenblicken ein Mehrzweckgeländewagen durch das Unterholz in dem fahlen Mondlicht. Gleißend hell strahlte ihnen das doppelte Scheinwerferlicht entgegen, statt eines Scheinwerfers, wie die Fennek-Panzerwagen sie haben.
Johan war für den Bruchteil einer Sekunde fast enttäuscht, als er den Wagen erblickte. Nicht, dass er sich im Nachhinein beschweren würde, dass ihnen kein Panzer entgegen gekommen war - schließlich hätte dieser mit ihnen kurzen Prozess machen können - aber die offensichtliche Söldnergruppe, die jetzt mit Brüllen, Johlen und Getöse aus den offenen Fenstern angebraust kam, wirkte nicht wirklich wie eine Bedrohung. In den wenigen Momenten, die er die kleine Gruppe analysierte, stellte er fest, dass es gerade mal eine Handvoll Gerüsteter waren, dazu eine Frau, die filmreif im Fenster des Wagens saß und scheinbar die Anführerin der Gruppe war. Der Geländewagen, der nach Johans Meinung starke Ähnlichkeit mit einem russischen GAZ Tigr hatte - was ihm ohne Wolfgangs konstante Besserwisserei über sowas sicherlich nicht im Kopf geblieben wäre - hatte ein stilisiertes "S" auf die Seite gedruckt. Die Insassen hatten ihrerseits wohl die Gruppe der Seher unterschätzt und scheinbar, wie Johan vorher bereits angenommen hatte, den zweiten Panzerwagen trotz Spähdrohne übersehen, was deutlich wurde, als das Grölen plötzlich verstummte. Vielleicht war es auch der Befehl der Anführerin gewesen, denn ihr Blick klebte nun wie der eines Pitbulls im Kampfgeschehen an ihm und seinem Hauptmann neben sich. Im selben Moment, in dem vier Gestalten aus dem Wagen sprangen, riss Johan seine Waffe hoch und eine kurze Meldung aus dem Komm ließ sie alle wissen, dass Henrik wieder bereit war und die Anführerin im Visier hatte. Der blonde Soldat bewegte sich ein Stück in die Deckung des Lastkraftwagens neben ihnen und visierte ebenfalls die Zielperson an.
Während der Tigr einen Schwenk machte, der verdeutlichte, dass dieser Reißaus nehmen würde, warteten sie alle auf den Befehl, um die Anführerin sowie die anderen Söldner auszuschalten. Aber … er kam nicht. Der blonde Soldat ließ die Gegner nicht aus dem Visier, blickte aber für den Bruchteil einer Sekunde neben sich, wo Falco ebenfalls in der Deckung hocken sollte - es jedoch nicht tat. Sein Hauptmann stand wie erfroren noch immer an derselben Stelle im offenen Feld, scheinbar auf den Tigr fixiert. Die Gegner hatten noch kein Feuer auf ihn eröffnet; absolut nichts machte Sinn in diesem Moment für den Soldaten. Was zum Henker geht hier vor?
Johan versuchte, sich via Komm bei Falco bemerkbar zu machen, aber der Hauptmann reagierte nicht. Im Kopf ging Johan für weniger als einen Augenblick durch, was bis zu diesem Punkt passiert war und was die Befehle waren. Nein, etwas stimmte nicht mit dem Mann. Er war sonst immer Herr der Situation. Aber jetzt … Der blonde Soldat wollte erneut nach Falco rufen und war drauf und dran, seine Deckung zu verlassen, als er die Stimme des Veteranen aus dem Sprachkanal flüstern hörte: "K-Katharina?"
Scheiße. Den Namen hatte er schonmal gehört. Jemand aus der Vergangenheit Falcos. Das bedeutete für den Leutnant, dass sein Hauptmann unter Schock stand und die Gegner nur deswegen kein Feuer auf ihn eröffneten, weil er erkannt wurde und sie keinen Befehl erhalten hatten, ihn zu töten.
Johan überlegte nicht weiter, ein trainierter Part in seinem Geist übernahm und ließ die anderen Mitglieder der Einsatzgruppe wissen: "ABR - Abbruch und Personenschutz!"
Er hörte kurz darauf die Aufregung der anderen durch das Gerät an seinem Ohr, als er ihnen so durchgab, dass Falco eine akute Belastungsreaktion erlitt. Sie verstanden nicht, was genau los war, aber definitiv, dass ihr Ziel jetzt ein anderes war. Johan preschte aus der Deckung hervor, erledigte eins der Ziele, zwei, dann erreichte er seinen Hauptmann. Womit er jedoch nicht gerechnet hatte, war, dass gleich mehrere der an der Situation Beteiligten in diesem Moment Fehlentscheidungen treffen würden: Die Anführerin, die Falco mit Katharina bezeichnet hatte, die ihre Söldner zurückließ und scheinbar die Ladung des Lastkraftwagens aufgab. Die Söldner, die uneindeutige Befehle erhalten und bereits zwei ihrer Teammitglieder verloren hatten, bevor sie selbst das Feuer eröffnen konnten, um sich zu verteidigen. Das Team im Schneewolf 2, das entschied, dem Tigr hinterherzufahren und die Anführerin auszuschalten, wie sie ihm im Komm mitteilten. Und er selbst, der sich jetzt den letzten zwei Söldnern allein entgegen stellen musste, in der Hoffnung, dass Falco wieder zu sich kam, bevor diese sich wieder fangen und zur Gegenoffensive wechseln konnten.


Die Frau, die da stand, konnte niemand anderes sein. Die, der er vor mehr als sieben Jahren für Monate versucht hatte, einen Antrag zu machen, die, die es dann einfach selbst gemacht hatte. Die, die tot sein sollte.
Nein. Nein, nein, nein, Tote bleiben tot. Das war eine Illusion, ein Hirngespinst, ein Meme, was-auch-immer, aber nicht die Frau, der er sein Herz, sein Leben versprochen hatte.

Aus dem Augenwinkel nahm Falco wahr, wie es zu einem Handgemenge kam, aber es erreichte ihn nicht. Es war ein stumpfes Geräusch am Rande der rasenden Gedanken, die ihn in ihrem Griff hielten. Dann prallte ein Körper hart gegen ihn und er wurde aus dem Schock, dem Unglauben, gerissen. Sein Kopf flog herum und er sah noch, wie einer der Angreifer den stumpfen Schaft des Sturmgewehrs wieder zurückzog und ansetzen wollte, um dem Soldaten, der schwer neben Falcos Füßen zu Boden gegangen ist, den Rest zu geben. Über das Komm hörte er Pierre brüllen. Eine weitere Gestalt hatte ihr Sturmgewehr auf ihn, den Hauptmann, gerichtet. Mehr konnte er in dem Hauch einer Sekunde nicht wahrnehmen, die es brauchte, bis die jahrelang eingeübten Reflexe ihn reagieren ließen. Er riss das Maschinengewehr hoch und feuerte in die Körper, die seinen zweiten Leutnant niedergeschlagen hatten. Als beide dumpf zu Boden fielen, hatte er die Umgebung schon auf weitere Gegner überprüft, aber scheinbar war ihm Johan zuvorgekommen. Was war bloß ihn ihn geraten? Er war auf Missionen sonst nie abgelenkt, ließ sich nicht beeindrucken, riskierte nicht das Leben anderer. Dennoch lag einer seiner Männer nun am Boden. Er sicherte sie noch ein Mal ab, gab Pierre ein Zeichen, beim Wagen zu bleiben und hockte sich neben Johan, der sich noch halb aufgestützt hielt. Er hustete unterdrückt, was dazu führte, dass etwas aus seinem Mund fiel, was in der Dunkelheit aber nicht klar erkennbar war. Falco stütze ihn ab und half ihm, sich wieder aufzurichten. Der andere Soldat sagte keinen Ton und ein Blick in sein Gesicht zeigte Falco, warum: Ihm fehlten offenbar ein paar Zähne, der Kiefer hing in einem unangenehmen Winkel schlaff runter und Blut lief aus so ziemlich jeder Öffnung seines Gesichtes. Ein Auge war von Blut rötlich gefärbt, unter dem anderen breitete sich die erste Verfärbung eines Blutergusses aus. Nach kurzer Benommenheit fing sich Johan wieder und fixierte ihn mit Blicken. Falco las puren Hass in seinem Gesicht und er war sich nicht sicher, ob es ihm galt oder der Person, die ihn so zugerichtet hatte. Nichtsdestotrotz musste er wahnsinnigen Schmerzen ausgesetzt sein. Falco legte ihm eine Hand auf die Schulterplatte, welche der andere aber abstriff. Zumindest lässt er sich hochhelfen. Falco sammelte die außer Reichweite fallen gelassene MP7 von Johan auf und reichte ihm diese, dann schulterte er Liebe.

"Keine Sorge, Frey, die kriegen das wieder hin. Poussin, hast du was Starkes da und kannst was für eine Gesichtsfraktur vorbereiten?"

Pierre, der sich mittlerweile wieder beruhigt hatte, grunzte müde etwas zur Antwort und schien sich dann im Wagen direkt an die Arbeit zu machen. Johan spuckte stöhnend einen Klumpen Blut aus, der sich in seinem Mund gesammelt hatte und schritt dann still zum Wagen, ohne seinen Hauptmann noch eines Blickes zu würdigen. Es war zu erwarten. Er konnte es ihm nicht verübeln. Falco atmete tief durch und ließ seinen Blick ein letztes Mal über das Feld streifen, dann machte er einen Check zum anderen Team.

"Jensen, Matussek, Status."

Funkstille. Sofort alarmiert wiederholte er den Check. Weiter keine Antwort.

"Lund, Status! Scheiße, meldet euch!"

Vergessen war der umgekippte Lastwagen, da würde sich jetzt eh' nichts mehr machen lassen bis die Aufräumtruppe auftauchte; aber er konnte sich immer auf die anderen verlassen, sich zu melden. Kalte Angst kroch in seiner Brust hoch und schnürte ihm die Kehle zu, trotz der Hitze, die das Adrenalin in ihm hinterlassen hatte. Kalter Schweiß lief seinen Nacken herunter und benetzte unangenehm die seit Jahren empfindliche Narbenhaut an seinem Hals, während er sich sammelte. Er durfte es nicht zeigen. Er musste Sicherheit ausstrahlen. Atmen. Sie waren in einem gepanzerten Wagen unterwegs. Wolfgang wusste, was er tat. Falco riss sich los, lief hinter Johan zum Schneewolf 1 und sprang hoch in die Tür zum Sitz an den Schaltflächen. Ein direkter Check an den Wagen, weiter Funkstille. Johan war hinter ihm in den Wagen geklettert und ließ sich auf den hinteren Sitz fallen. Er musterte kurz die Anzeigen, dann tauschten er und Pierre einen Blick, der dem Hauptmann nicht entging. Sowohl Pierre als auch Johan zeigten nun Besorgnis, zumindest, soweit es möglich war, die entstellte Fratze Johans zu deuten. Falco riss sich zusammen, erinnerte den Sanitäter daran, sich um seine Aufgabe zu kümmern und gab dann ihren Status durch zum Command. Natürlich wussten die beiden Bescheid. Aber zu hören, dass er Command bestätigte, den Kontakt zum anderen Team verloren zu haben, besiegelte ihre stummen Vermutungen. Keine Stille aufkommen lassen. Ihnen keinen Raum zum zweifeln lassen. Pierre hatte derweil notdürftig getan, was er konnte und Johan blutete zumindest nicht mehr über seine Ausrüstung. Sprechen würde ihm aber erstmal schwer fallen, wie Falco bei dem Anblick feststellte. Der Sanitäter packte ein, was noch rumlag und sie besprachen kurz den Weg, den der andere Wagen genommen hatte. Dann machten sie sich auf, ihm hinterherzufahren. Die Anzeigen hatten ihnen eine Stelle weiter Richtung Felsklippen gedeutet. Bitte, sag mir nicht …

Wieder dieser Griff um seine Kehle. Lass sie nicht abgestürzt sein. Lass sie noch am Leben sein.


Das Erste, was Wolfgang wahrnahm, war der Druck auf seiner Brust. Es war unangenehm, hart, metallisch und irgendeine Feuchtigkeit lief an seiner Seite durch seine Kleidung. Als er zaghaft einatmete, stach etwas grausam in seiner Lunge und er stoppte sofort, um nur noch sehr flach zu atmen. Etwas knirschte und er meinte eine leise Stimme zu hören. Wo war er nochmal? Mit wem? Alles in seinem Kopf fühlte sich so zäh wie das frisch gekochte Karamell an, das seine Mutter immer gemacht hatte, wenn es etwas zu feiern gab. Langsam, ganz langsam drängte sich eine Erinnerung in seinen Geist und er sah sich selbst, wie er das Lenkrad loslassen musste, als der Panzerwagen sich überschlug und eine Wand aus Felsen, Grünstich und Dreck die Scheibe entlangflog. Es war wahnsinnig laut gewesen und dann hörte alles plötzlich auf.

"Lovisa? Lovisa, wach auf."

Stöhnend öffnete der bärtige Mann ein Auge und stellte fest, dass das andere geschwollen und verkrustet war. Gut, dann bleibt das eben erstmal zu. Als sein Auge sich halbwegs fokussieren ließ, bemerkte er eine ganze Reihe an schlechten Nachrichten. Er saß zwar noch halbwegs im Fahrersitz, dank der Gurte, die seine Brust einschnitten, aber alles war auf die Seite gekippt und er lag auf der unteren Innenwand, die Fahrertür in seinem Rücken. Es herrschte ein unheimliches Halbdunkel im Wagen und nur die Kontrollleuchten und ein Notlicht spendeten Beleuchtung. Die Scheiben waren allesamt dicht mit Dreck. Was ihn am meisten beunruhigte war aber die verdammte, übergroße Hokuspokus-Kiste, die er vergessen hatte zu sichern und die nun mit dem gesamten Gewicht verkeilt auf seinem Bauch klemmte und offensichtlich dafür sorgte, dass er sich weder bewegen konnte, noch gut atmen. Wahrscheinlich hatte sie ihm eine oder zwei Rippen gebrochen, wenn er den Schmerz richtig deutete. Und die Feuchtigkeit? Blut, natürlich. Kurwa. Sobald die Benommenheit abgeklungen war, würde das höllisch wehtun.
Wolfgang nutzte die verbleibende Zeit, bis der Schmerz einsetzen würde, um nach seinen Kollegen zu schauen. Der Winkel, in dem er eingeklemmt war, machte das nicht wirklich einfach, er wollte seinen Kopf auch lieber nicht bewegen, falls eine noch nicht registrierte Verletzung dadurch schlimmer werden könnte. Aber im Spiegel schräg über ihm konnte er gerade so noch in den Bereich hinten schauen, wo ein ebenfalls nicht mehr ganz frisch aussehender Henrik dabei war, eine scheinbar bewusstlose Lovisa aus den Gurten zu schneiden, die sie statt am Sitz nun in der Luft hielten und wahrscheinlich die Atemluft abklemmten. Der Scharfschütze ließ sich nichts anmerken, aber er vermied deutlich ein paar Bewegungen und atmete ebenfalls flach in seine zerbrochene Maske. Als er das Mädchen endlich losgeschnitten hatte, ließ er sich mit ihr zu Boden sinken und prüfte ihren Puls und Atmung. Danach stattete er der Luft neben den beiden Bericht.
Wieder ein Knirschen, nein, gleich mehrere. Wolfgangs Gehirn wusste leider keine Antwort, also beließ er es dabei. Der Schneewolf war kein normales Auto und würde eine Menge äußerliche Probleme abhalten, die ihr Absturz mit sich gebracht haben musste. In dem Wagen selbst war auch fast alles doppelt und dreifach gesichert, wenn man von der vermaledeiten Kiste einmal absah.
Ein Blick nach unten zeigte ihm etwas mehr Blut, das den dunklen Stoff der Ausrüstung nun blutig-nass durchzog. "Tod durch Kiste mit Van-Helsing-Krimskrams", das würde also auf seinem Grab stehen. Es gab deutlich schlimmeres, aber eigentlich wollte er jetzt nicht verbluten.

Ein weiterer Blick zurück in den Spiegel zeigte ihm, dass Lo scheinbar aufgewacht war und die Maske- nein, das Gesicht Henriks tätschelte. Die Maske war an mehreren Stellen abgeplatzt und er griff nach ihrer Hand, um sie die Reste nicht auch noch wegnehmen zu lassen.

"Hey, Heni, du hast- du hast ja tatsächlich Lippen. Hübsche … Lina hatte wohl d-doch Recht. Spannerin. … Aua. Ich glaube, ich habe mir was gebrochen. Ich-"

Der Soldat deutete ihr, zumindest ein Mal im Leben ihre Kräfte zu sparen und die Klappe zu halten, während Wolfgang langsam spürte, wie die Stelle an seinem Bauch anfing zu brennen und ein pulsierender Schmerz sich überall auszubreiten begann. Schweiß lief ihm aus jeder Pore und er leckte sich über die trockenen Lippen, um ein paar Worte rauszubringen.

"Das- ah… Das ist wirklich mega romantisch und ich würde euch noch den ganzen Abend beobachten, aber … Kurwa-nochmal-ich-sterbe-hier-gerade. Leut … Leutnant, kommen wir hier raus?"

Bevor der andere etwas erwidern konnte, meldete sich endlich das Komm: "… Hörst du? Sie leben noch."

"Endlich, es ist Gabba-Gandalf und die Kavallerie!"

"Oh Gott, lass die Nerds bloß da drin."

Wolfgang unterdrückte seinen weiteren Jubel nach dem Ausruf, um sich selbst nicht noch mehr Schmerzen zu verursachen, aber von hinten aus dem Wagen hörte er ein erleichtertes Lachen. Kurz darauf sah er über sich zwei Paar Hände den Dreck auf einer der gepanzerten Scheiben beseitigen, zwei grelle Lichter, die den Raum um ihn sondierten, und dann die Sonnenbrille seines Hauptmanns in dem Rechteck. Ein Anblick, der nicht schöner sein konnte in diesem Moment, egal, wie dämlich es war, in der Dunkelheit eine Sonnenbrille zu tragen.

"Matussek, seid ihr okay?"

"Jawo- Einigermaßen, Hauptmann. Beeilt euch bloß, bevor die Hurensöhne wiederkommen."

"Die gehen nirgendwo mehr hin. Der Erdrutsch hat deren Wagen begraben und der Rest ist tot. Haltet einen Moment aus, wir extrahieren euch."

Die Momente danach vergingen sehr schnell für Wolfgang. Teilweise, weil er sich selbst die Ohnmacht erlaubte, teilweise, weil Pierre wusste, was er zu tun hatte und alle drei irgendwie aus dem Wagen holte - oder sie sicherte, bis Hilfe kam. Natürlich erzählten sie später immer, dass Pierre sie alle komplett allein gerettet hatte.
Hin und wieder wachte Wolfgang auf, um ein Gesicht zu sehen oder leise Gespräche zu hören und er meinte sogar, dass Johan kurz bei ihm saß, wobei sein Kopf mehr Mullbinde als Haut war. Auch Henrik war einmal da - nun ganz ohne Maske und mit Lovisa im Schlepptau - und Wolfgang konnte sich nicht verkneifen, ihm zu erzählen: "Wahnsinn, mit der Narbe kannst du … Kannst du ja sogar Falco Konkurrenz machen. Respekt, Mann."

Später erwachte er zu grellem Scheinwerferlicht und einer ganzen Mannschaft an Leuten, Sanis und einem Hubschrauber, wenn er das regelmäßige Geräusch richtig deutete - und einer Lovisa, die über all den Lärm brüllte: "Yeah, Beta-Team forever, baby!"



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