Ein Besuch
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Vor dem Fenster war der Klang von Kinderlachen aus dem einen Block entfernten Park zu hören.

Professor Ian Thomas sank in seine Couch, ohne den Raum wirklich zu sehen. Er schloss die Augen. Es war ein langer Tag. Der Historiker konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt einen kurzen Tag gehabt hatte. Er seufzte tief und massierte seine Schläfen, griff nach der Flasche Whiskey, welche er für ernste Notfälle in seinem Regal hatte.

Sie war nicht da.

“Schauen Sie auf den Couchtisch, Professor.” Es dauerte einen Moment, bis er die Stimme wahrnahm, und auch dann blieb es merkwürdig. Adjektive bildeten sich in seinen Gedanken, ohne sich auf tatsächliche Eigenschaften zu beziehen. Er wusste, dass die Stimme glatt und kultiviert war und leichte Hinweise auf einen ungewöhnlichen Akzent hatte … aber er konnte weder ein Geschlecht noch ein Alter oder eine genaue Tonlage identifizieren.

Obwohl seine Instinkte hochalarmiert waren, griff er mit einer lässigen Bewegung nach dem vollen Glas auf der Glasplatte. Wie ein Mann, der gegen die Strömung ankämpft, versuchte er sich auf die Quelle der Stimme zu fokussieren und fand ein Paar Augen in einem Gesicht, welches sein Geist genauso wenig zu beschreiben bereit war wie die Stimme.

“Entspannen Sie sich, Professor”, sagten die schwarz-roten Augen. “Nehmen Sie einen Schluck, er wird das hier einfacher machen. Der Whiskey ist ziemlich gut, wenn ich das sagen darf.” Die Augen hoben ein halbvolles Glas in einer schlanken Hand und prosteten ihm zu. “Ich habe ihn bereits gekostet. Sie werden mir diese Verfehlung verzeihen, hoffe ich. Ich wurde unter etwas anderen Regeln der Gastfreundschaft erzogen.”

Der Historiker wischte die Spinnweben in seinem Geist beiseite und setzte sich aufrechter. Er kannte seinen ungebetenen Gast; seine Gedanken rasten Erinnerungswege entlang … Beschreibungen von Blut und Feuer. Er schluckte und setzte das Glas nachdrücklich ab. “Ich denke, ich warte damit”, sagte er mit bebender Stimme. “Wie haben Sie mich gefunden?”

“Nun kommen Sie, Professor, Sie kennen mich sehr gut”, sagte der Besucher. “Ich bin erfreut, dass Sie und Ihre Kollegen so begeistert von meinen Memoiren sind. Die Menge an Energie, die Sie investiert haben, um sie zu sammeln, verblüfft mich.”

“Sie sind–”

Die Augen verengten sich etwas. “Lassen Sie uns den Begriff Ihrer Kollegen verwenden, Professor. Sachlich bleiben.”

Thomas schluckte hart. “Sie sind SCP-140-A,” sagte er.

“So ist es. Sind Sie überrascht?”

Der Historiker schauderte. Trotz seinen Bemühungen begannen seine Finger nervös auf den Couchtisch zu trommeln. Er fühlte die Belustigung seines Gegenübers und verfluchte die Schwäche seiner Knie. Er war nicht in seinem Element. “Es …”, er schluckte, befeuchtete seine Lippen, “Es tut mir leid, aber ich befinde mich hier im Nachteil.”

“Selbstverständlich tun Sie das. Ich wäre sonst nicht hier.” SCP-140-As Augen waren schwer zu lesen, aber er fühlte eine wachsende Belustigung. “Professor, ich habe nicht Jahrhunderte überlebt, weil ich unvorsichtig bin. Ich lerne. Ich höre. Ich passe mich an. Ich habe kein Interesse daran, mich unnötigen Risiken auszusetzen. Ich habe Sie ausgewählt, weil Sie ein gebildeter Mann sind. Weil meine Quellen aussagen, dass Sie, im Gegensatz zu manch Ihrer Kollegen, nicht fähig sind, die Dienstpistole zu benutzen, welche sie gerade versuchen zu greifen, während ich schon getötet habe und es lächelnd wieder tun werde.”

Es lachte, und etwas an diesem Laut ließ Thomas an splitterndes Glas denken. “Entspannen Sie sich, Professor. Ich habe heute Abend kein Interesse an Gewalt, allerdings, falls Sie versuchen, hier so etwas Ähnliches wie Heldenmut zu zeigen, werden meine Scharfschützen Ihnen eine Kugel ins Gehirn jagen, noch bevor Sie den Schuss hören.”

Thomas ließ die Pistole mit einer winzigen Spur von Erleichterung los. Er räusperte sich, lehnte sich vor und tat sein Bestes, dem gut gekleideten Eindringling ins Gesicht zu schauen, obwohl seine Augen schmerzten, wenn er zu genau hinsah. “Also, warum sind Sie hier?”

“Ihre Foundation sucht mich schon ziemlich lange”, antwortete SCP-140-A , “so wie die Inquisition und die Templer und die Ghāzīs vor ihnen. Zu meiner Zeit trafen sich die Anführer von Angesicht zu Angesicht.” Es lächelte mit Zähnen wie eine Reihe glänzender Messer. “Ich hielt es für notwendig, auch Ihnen diese Aufmerksamkeit zu schenken.”

Der Historiker schluckte und nickte “Ich verstehe”, sagte er. “Ich nehme nicht an, dass Sie daran interessiert sind, formale Verhandlungen mit der Foundation-Leitung aufzunehmen.”

“Ich bezweifle irgendwie, dass diese Verhandlungen mit guten Absichten geführt würden”, antwortete SCP-140-A. Es lehnte sich auf der Couch gegenüber von Thomas zurück und sah beunruhigenderweise so aus, als wäre es zu Hause. Das … was immer es war, stieß ein Seufzen aus und stellte sein Getränk ab. Dünne Hände pressten sich vor dem Gesicht ihres Besitzers zusammen.

“Sie leben in einer merkwürdigen Ära, Professor”, sagte es. “So viel habe ich von Ihren Kollegen gelernt. Meine Zeit war ein Zeitalter der Könige. Blut wurde vergossen im Namen der Götter und der Ehre. Ihre Kollegen kämpfen weder für das eine noch für das andere.” Es lachte schneidend. “Ich behaupte nicht, alle Ihre Methoden zu kennen und trotzdem weiß ich, zu was für einem Maß an Rücksichtslosigkeit Sie fähig sind. Aber nicht für Land oder Macht, noch nicht einmal für Frieden. Sie bringen Opfer im Namen der …”, er machte ein angeekeltes Geräusch, “’Normalität.’ Fällt Ihnen wirklich nichts Besseres ein, als die Bewahrung der Mittelmäßigkeit?”

“Haben Sie es deswegen geschrieben?”

“Wieso muss es denn Teil eines teuflischen Plans sein?”, antwortete SCP-140-A. Es überschlug seine langen Beine, die rot-schwarzen Augen halb geschlossen. “Möglicherweise war ich schlicht einsam. Nostalgisch.”

“Ja, genau. Die gute alte Zeit. Wie sehr ich doch meine Ritualmorde vermisse.”

“Kommen Sie, Professor, in Wirklichkeit sind Sie intelligenter. Sie wissen, wie brutal und gewalttätig die Welt damals war.” SCP-140-A klang nachdenklich. “Und doch bauten Ihre Leute aus den Trümmern eines Imperiums, welches Felder salzte und jeden zehnten wegen Illoyalität tötete, dieses Zeitalter der technischen Wunder. Denken Sie, diese Wunderwerke sind nicht mit Blut geschmiedet?”

“Jedenfalls nicht wörtlich”, antwortete der Historiker. Er nahm einen Schluck seines Getränks, obwohl er wusste, dass er aufmerksam bleiben sollte. “Sie hatten Ihre Chance.”

“Und doch bleiben Sie neugierig”, sagte der Gast. “Wenn ich mich richtig erinnere, hat die Foundation Sie aus einer vielversprechenden akademischen Karriere geholt. Ich weiß, dass Sie sich fragen, was passieren würde im Falle eines weiteren … ich glaube, Sie nennen es ‘Expansions-Ereignis’, richtig? Jeder ehrliche Historiker würde das.” Er lächelte. “Aber Sie sind seit Jahren schon kein Historiker mehr, nicht wahr?”

“Bitte?”

“Ihre Beschäftigung wiederstrebt Ihnen”, antwortete es. “Das kann ich gut verstehen. Wie viele Ihrer Kollegen teilen Ihre Leidenschaft?” Es nahm einen Schluck von seinem Whiskey und schüttelte den Kopf. “Ihren Fachkenntnissen wird mit Ablehnung, sogar mit Verachtung begegnet. Ich sah Alexandria brennen, Professor, und das Fegefeuer der Eitelkeiten und die Brände von München. Und ich weinte. So viel Wissen zerstört. Ihre Kollegen würden Sie ein neues Dunkles Zeitalter bewahren lassen.”

“Und Ihr Vorschlag ist … was genau?”, fragte der Historiker und versuchte dabei die unbequeme, enervierende Art zu ignorieren, auf die die Worte des anderen an ihm nagten. Seine Finger klopften unbewusst auf der Tischplatte. “Soll ich mich deswegen aufregen? Oder schlagen Sie vor, ich sollte einfach alles öffentlich bekannt machen?”

“Warum sonst haben Sie sie nicht bezüglich der Ausgrabungsstätte gewarnt, Professor?”

Ein Stück Gletschereis fiel in Thomas' Eingeweide. “Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!”, schnappte er. Der Whiskey in seiner Hand erschien mit jedem Moment verführerischer.

“Oh, entschuldigen Sie. Ich wollte nicht unhöflich sein.” Der Besucher lehnte sich vor und stützte das schmale Kinn mit einer langen, blassen Hand. Schwaz-rote Augen schienen vor Interesse zu funkeln. “Es ist eine naheliegende Annahme. Sicher haben Sie eine Gefahr vorhergesehen. Als einer der wenigen Historiker der Foundation hätten Sie genug Autorität bezüglich des Themas, so dass es schwer zu glauben ist, dass Ihre Warnung von Ihren Kollegen ignoriert worden wäre. Ich werfe Ihnen das nicht vor Professor. Sie können über das Thema weder publizieren noch unterrichten, also bleibt Ihnen nur …”, es zuckte mit den Achseln, “Forschung.”

“Ich habe Sie gewarnt!”, zischte Thomas, während die Erinnerung in seinem Kopf glühte. Er leckte sich nervös die Lippen und trank den restlichen Inhalt des Glases mit einem Schluck. Das Glas und seine Hand zitterten, als eine Welle von Erinnerungen durch seinen Geist rauschte.

Er hatte Fotos von der verhängnisvollen Ausgrabung gesehen. Sie hatten diese Art von unangenehmer Faszination, die auch Fieberträume besitzen, wundervolle Dinge und schreckliche Dinge, trotzdem kunstvoll gearbeitet. Und er hatte sich die Aufnahmen angehört. Sie hielten ihn nachts wach.

“Das haben Sie sicherlich”, sagte der Besucher beruhigend und streckte den Arm aus, um Thomas’ Schulter zu klopfen. Die Haut unter dem Stoff kribbelte bei der Berührung. “Letztlich ist alles dokumentiert worden. ‘Professor Thomas rät zur Vorsicht.’ Sehr nüchtern formuliert. Es ist kaum Ihre Schuld, falls Sie erwartet haben, dass man nicht auf Sie hört.”

“Dieses Gespräch ist beendet.”

“Ist es das? Nun, das erscheint mir fair”, sagte der Besucher mit einem merkwürdigen Halblächeln. “Sie brauchen zweifellos Zeit zum Nachdenken. Ich habe unsere gemeinsame Zeit genossen, Professor. Es ist ein Vergnügen, mit jemandem zu sprechen, der weiß, wer und was ich bin. Jemand, der meine Arbeit schätzt. Ich werde bei Gelegenheit wieder vorbeikommen.”

Es stand auf und streckte sich, dann brachte es ein Stück Papier zum Vorschein, welches aus einem Notizblock gerissen zu sein schien. Eine Telefonnummer war in enger Schrift darauf geschrieben. “Wenn Sie ihre Einstellung ändern, Professor, wissen Sie, wie Sie mich finden können.”

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